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Am letzten Oktoberwochenende trafen sich in Frankfurt am Main zwei Dutzend Marxistinnen und Marxisten ganz unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe, um sich zwei Tage lang mit dem „Menschenbild im Klassenkampf“ zu befassen. Das sieht angesichts der dramatischen Zeiten des Ukraine-Krieges, der Klimakatastrophe, der Inflation und der beinharten Tarifkämpf, vor denen die IG Metall und ver.di stehen, vielleicht wie ein übertriebener Luxus oder gar wie eine Flucht aus der Gegenwart aus. Das ist aber nicht so.

Karl Marx befasste sich schon sehr früh, noch vor der Vertiefung in ökonomische Zusammenhänge, mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht. In seinen im Frühjahr 1845 verfassten „Thesen über Feuerbach“ – da war er noch keine 30 Jahre alt – schreibt er: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“[1]. Instinktiv kämpfen alle reaktionären Ideologen und politischen Kräfte gegen diese Einsicht und versuchen mit ihrer ganzen Medienmacht den Menschen einzutrichtern, sie seien ein der übrigen Gesellschaft gegenüberstehendes Einzelwesen mit ganz besonderen Eigenschaften, die sie im Wettbewerb mit anderen ausprägen müssten, um erfolgreich zu sein. Dies geht bis zu dem bis heute gültigen Glaubensbekenntnis aller Konservativen, das die ehemalige britische Premierministerin Margarete Thatcher in den Satz kleidete: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“[2]

Dieses Bild von den vereinzelten, jedes für sich und gegen alle anderen kämpfenden Individuen – bestenfalls noch eingebettet in die eigene Familie – hat für das Kapital große Vorteile: Im Konkurrenzkampf gegen alle anderen können sich die Unternehmer die billigsten und zugleich willigsten Arbeitskräfte aussuchen, um sie für ihren Reichtum arbeiten zu lassen.

Die fundamental unterschiedliche Sichtweise des liberalen – also auf das Individuum fixierten – und des sozialistischen – also dieses Individuum als ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse begreifenden – Menschenbildes hat aber noch weit tiefgreifendere und aktuellere Konsequenzen.

Denn die Kooperation der einzelnen Menschen ist der eigentliche Schlüssel für seine Fähigkeit, die Schranken der Tierwelt zu verlassen und sich eine ganze Welt neuer Bedürfnisse und Genüsse zu erschließen – und in der Perspektive sich bei fortentwickelter weltweiter Kooperation der Menschheit ein Reich der Freiheit zu erschließen: „Verglichen mit einer gleich großen Summe vereinzelter individueller Arbeitstage, produziert der kombinierte Arbeitstag größre Massen von Gebrauchswert und vermindert daher die zur Produktion eines bestimmten Nutzeffektes bestimmte Arbeitszeit.“[3] Die Möglichkeiten, durch verbesserte Kooperation die für das Leben notwendigen Waren mit weniger Zeitaufwand (und weniger Verbrauch von natürlichen Ressourcen) herzustellen, werden aufgrund des Konkurrenzprinzips im Kapitalismus aber nicht genutzt. Statt Arbeitszeitverkürzung gibt es überlange Arbeitstage und eine Anhäufung potenziell immer nutzloserer Wegwerfartikel, statt mehr Gleichheit gibt es immer mehr Ungleichheit, statt mehr Glück weltweit mehr Elend.

Das alle gesellschaftliche Kooperation zerfräsende Konkurrenzprinzip als das Lebensgesetz kapitalistischer Gesellschaften zerstört nicht nur das individuelle Glück des so voneinander isolierten gesellschaftlichen Wesens Mensch. Es untergräbt zugleich das Gattungsvermögen des Menschen, das eben aus der Kooperation anstelle der Konkurrenz jede(r) gegen jede(n) erwächst. Es hemmt damit auch die Fortentwicklung der menschlichen Produktivkräfte – sichtbar an der nun seit rund drei Jahrzehnten stagnierenden ökonomischen Entwicklung der kapitalistischen Zentren und seinem relativen Bedeutungsverlust gegenüber solchen aufstrebenden Nationen wie der Volksrepublik China und anderen.

In der Zeit, als sich der junge Marx noch vor allem mit philosophischen Fragen befasst, wendet sich der in Manchester in der Firma seines Vaters tätige Friedrich Engels der ökonomischen Realität der in den Fabriken schuftenden Arbeiterinnen und Arbeiter zu und fasst seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen in dem im Sommer 1845 erschienenen Buch zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ zusammen. Der damals 25jährige untersucht darin das Leben der von den Unternehmern wie eine Ware behandelten, zu Hungerlöhnen über 10 Stunden am Tag schuftenden Kinder, Männer und Frauen und schreibt: „Man wird mir zugeben, selbst wenn ich es nicht so oft im einzelnen nachgewiesen hätte, daß die englischen Arbeiter sich in dieser Lage nicht glücklich fühlen können; daß die ihre keine Lage ist, in der ein Mensch oder eine ganze Klasse von Menschen menschlich denken, fühlen und leben kann.“[4]

Dagegen begehren sie auf – zunächst isoliert voneinander, dann aber immer mehr und besser in Kooperation mit den anderen durch die Kraft der Konkurrenz von ihnen isolierten Mitmenschen – und so diese Kraft der Konkurrenz überwindend. Mensch werden, erkennt der 25jährige, können die Menschen nur in Opposition zu diesen Verhältnissen: „Wenn, wie wir sahen, dem Arbeiter kein einziges Feld für die Betätigung seiner Menschheit gelassen ist als die Opposition gegen seine ganze Lebenslage, so ist es natürlich, daß gerade in dieser Opposition die Arbeiter am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten erscheinen müssen.“[5]

In dem Kapitel „Arbeiterbewegungen“, dem auch die obigen Zitate entnommen sind, zeichnet Engels die Herausbildung der ersten Gewerkschaften und den mühsamen, Beginn der ersten – oft mit brachialer Gewalt niedergeschlagenen – Streiks der englischen Arbeiterklasse nach, die nur allzu häufig angesichts der Allmacht des Kapitals und der mit ihm verbündeten Staatsmaschine in Niederlagen endeten, um dann fortzufahren: „Man wird sich fragen, weshalb denn die Arbeiter in solchen Fällen, wo doch die Nutzlosigkeit der Maßregel auf der Hand liegt, die Arbeit einstellen? Einfach, weil sie gegen die Herabsetzung des Lohns und selbst gegen die Notwendigkeit dieser Herabsetzung protestieren müssen, weil sie erklären müssen, daß sie, als Menschen, nicht nach den Verhältnissen sich zu schicken, sondern daß die Verhältnisse sich nach ihnen, den Menschen, zu richten haben… Die Arbeiter müssen dagegen protestieren, solange sie noch nicht alles menschliche Gefühl verloren haben, und daß sie so und nicht anders protestieren[6], kommt daher, weil sie Engländer, praktische Leute sind, die ihren Protest durch eine Tat einlegen, und nicht wie die deutschen Theoretiker ruhig schlafen gehen, sobald ihr Protest gehörig protokolliert und ad acta gelegt ist, um dort ebenso ruhig zu schlafen wie die Protestierenden.“[7]

Das Hohelied auf den Streik, das Engels hier singt, ist damit aber noch nicht zu Ende. Denn im Streik verweigern die Ausgebeuteten nicht nur wenigstens zeitweise den Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware, der den Kern aller ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse im Kapitalismus bildet. Sie stellen damit praktisch auch die Kooperation zumindest zeitweise als Lebensprinzip über die Konkurrenz. So arbeitet sich Engels in England, von der praktischen Beobachtung der dortigen Klassenverhältnisse kommend, zu derselben Erkenntnis durch, zu der Marx in Deutschland von der Philosophie her kommend gelangt, wenn er unmittelbar nach dem zuletzt zitierten Satz fortfährt: „Der tatsächliche Protest des Engländers dagegen hat seine Wirkung, er hält die Geldgier der Bourgeoisie in gewissen Schranken und erhält die Opposition der Arbeiter gegen die gesellschaftliche und politische Allmacht der besitzenden Kasse lebendig… Was aber diesen Assoziationen und den aus ihnen hervorgehenden Turnouts die eigentliche Wichtigkeit gibt, ist das, daß sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, daß die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, d.h. auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander. Und gerade weil sie sich, wenn auch nur einseitig, nur auf beschränkte Weise gegen die Konkurrenz, gegen den Lebensnerv der jetzigen sozialen Ordnung richtet, gerade deshalb sind sie dieser sozialen Ordnung so gefährlich. Der Arbeiter kann die Bourgeoisie und mit ihr die ganze bestehende Einrichtung der Gesellschaft an keinem wunderen Fleck angreifen als an diesem. Ist die Konkurrenz der Arbeiter unter sich gestört, sind alle Arbeiter entschlossen, sich nicht mehr durch die Bourgeoisie ausbeuten zu lassen, so ist das Reich des Besitzes am Ende.“[8]

Das „Reich des Besitzes“ an sein Ende zu bringen, bedarf – das haben auch Marx und Engels im weiteren Verlaufe ihres Lebens gelernt – einiger weiterer Voraussetzungen. Aber die hier dargelegten Erkenntnisse blieben nicht nur aus der Sicht beider bis an ihr Lebensende gültig – sie sind auch heute noch gültig. Das unentwegte Warnen der Herrschenden vor großen Streikbewegungen zeigt, dass dort oft eine größere Ahnung über die weitreichenden Wirkungen längerer Streiks besteht als bei den abhängig Beschäftigten selbst.

Begonnen haben Ende Oktober mit dem Ende der sogenannten Friedenspflicht im Bereich der Metall- und Elektroindustrie die ersten Warnstreiks, um die mehr als bescheidenden Forderungen der IG Metall nach einer 8prozentigen Lohnerhöhung durchzusetzen, also die „Geldgier der Bourgeoisie in gewisse Schranken zu weisen“. Am Horizont stehen bereits jetzt für Anfang 2023 die Kämpfe um eine angemessene Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst. Auch sie wird ohne Streiks nicht zu haben sein.

Die in der Tradition von Marx und Engels wirkenden Menschen unterstützen diese Streiks nicht nur, um den weiteren Niedergang im Lebensstandard von Millionen lohnabhängig Beschäftigter zu bremsen und möglichst umzukehren. Sie unterstützen diese Streiks auch deshalb, weil nicht nur die theoretischen Einsichten der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern die praktische Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte beweisen, dass in Streiks die Arbeiterinnen und Arbeiter „am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten“ werden. Vorher isoliert und geduckt Arbeitende blühen auf, vorher von oben Verachtete wachsen zu Riesen an Selbstbewusstsein, Trotz und Stärke, vorher Vereinzelte vereinigen sich. Die Kooperation siegt über die Konkurrenz. Selbst nach Streikbewegungen, die ihre Ziele nicht erreichen, haben danach die Gewerkschaften in der Regel nicht nur an Mitgliedern gewonnen, sondern auch an Selbstbewusstsein und an Kampfkraft für künftige Auseinandersetzungen mit dem Kapital.

Daher wünschen wir allen abhängig beschäftigten Frauen und Männern in den kommenden Wochen den Mut zum Streik – er entfaltet die menschlichste Seite der Menschen.

Manfred Sohn


 
[1] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, Marx Engels Werke (im folgenden MEW) Band 3, Berlin 1969, S. 6
[2] Im Original: “And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women and there are families.”  - Rede im Zentrum für politische Studien, hier zitiert nach “Financial Times“, 18. April 2013
[3] Karl Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, Berlin 1974, S. 348
[4] Friedrich Engels, Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, Berlin 1974, S. 430
[5] Ebenda, S. 431
[6] nämlich durch „turnouts“, also Arbeitsniederlegungen (Anmerkung MS)
[7] ebenda, S. 435f, Hervorhebungen im Original
[8] ebenda, S. 436, Hervorhebung im Original