Drei Thesen zu sozialistischen Erfahrungen und Perspektiven
Die nachfolgenden Überlegungen resultieren aus drei Referaten, die der Vorsitzende der Marx-Engels-Stiftung zwischen dem 24. und 29. November 2023 vor rund 80 Menschen in Diskussionsrunden ganz unterschiedlicher Zusammensetzung gehalten hat: Einem Gruppenabend der DKP Berlin-Tempelhof/Schöneberg, einer Veranstaltung der Deutsch-Chinesischen Freundschaftsgesellschaft Ludwigsfelde und einer Vorlesung vor VWL- und BWL-Studierenden an der Uni Göttingen. In die vorliegende Verschriftlichung dieser Referate sind die anschließenden Debatten aller drei Veranstaltungen und seitdem erschienene Veröffentlichungen in solchen Medien wie der jungen welt oder der Wochenzeitung unsere zeit mit eingeflossen.
I.
Viele der gegenwärtigen Debatten nicht nur in linken Kreisen um die Entwicklungen in China erscheinen als Debatten um die Einschätzung der dortigen Gesellschaft als entweder (wieder) kapitalistisch oder auf dem Weg zum Sozialismus befindlich. Sie sind ihrem Wesen nach aber Debatten um die Frage der Zeithorizonte historischer Umwälzungen.
Grundlage des Herangehens der Marx-Engels-Stiftung an solche Debatten ist der von Karl Marx und Friedrich Engels begründete wissenschaftliche Sozialismus. Beide waren in ihrer Jugend politisch geprägt von der revolutionären Stimmung der 1848er Jahre und hatten (wie viele ihren Spuren folgenden Menschen mit ihnen) einen eher auf Jahre, schlimmstenfalls Jahrzehnte zielenden Zeithorizont für den Übergang des Kapitalismus zum Sozialismus als erster Stufe des Kommunismus. Die tatsächlichen geschichtlichen Verläufe haben sie nicht der Richtung nach, aber hinsichtlich der Zeithorizonte korrigiert.
Die meisten marxistisch Gebildeten kennen die von Karl Marx im Frühjahr 1875 verfassten und erst nach seinem Tode 1890 als „Kritik des Gothaer Programms“ veröffentlichten „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“[1], das er in dem Begleitschreiben an Wilhelm Bracke als „verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm“[2] bezeichnet. Er unterscheidet dort zwischen zwei Phasen bei der Entwicklung der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft. Zunächst, so entwickelt er dort, sei die „auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründete Gesellschaft“ in jeder Beziehung noch „behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt“[3]. Das führte zu einer Reihe von Problemen, die er nach ihrer Darlegung bewertend so zusammenfasst: „Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist“, um dann in Abgrenzung zu dieser Phase gleich im nächsten Absatz von „einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ zu schreiben, in der die „Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ und es dann (erst) möglich sei, das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedürfnissen“ auf die Fahnen zu schreiben.[4] Im weiteren Verlauf der Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung hat sich für die von Marx als erste Phase des Kommunismus bezeichnete Gesellschaft der Begriff „Sozialismus“ und für die zweite Phase die Bezeichnung „Kommunismus“ eingebürgert. Über die zeitlichen Dimensionen dieser Phasen findet sich in dieser Schrift nichts – allerdings zwei Hinweise, die andeuten, daß die Hoffnung von Marx und seines besten Freundes Friedrich Engels auf einen rasanten politischen Entwicklungsprozess, die in den um 1848 herum entstandenen Briefen und Veröffentlichungen noch mit Händen zu greifen ist, bereits hier einer etwas weiteren Sicht auf die zeitlichen Horizonte der Entfaltung dieser im Kapitalismus immanent angelegten Widersprüche gewichen ist. Im eher wenig rezipierten hinteren Teil der „Randglossen“ zieht er über den Abschnitt „Freiheitliche Grundlage des Staats“ des Programmentwurfs her und insbesondere über die Zielsetzung des „freien Staats“[5]. Es ließe sich zwar, postuliert er, von einer „heutigen Gesellschaft“ als der kapitalistischen sprechen, der „heutige Staat“ aber sei von Land zu Land unterschiedlich, die Formulierung „der heutige Staat“ eine „Fiktion“ und im übrigen zu unterscheiden von dem Staatsgebilde in der „Periode der revolutionären Umgestaltung“, das nicht andres sein könne als „die revolutionäre Diktatur des Proletariats“. Es liegt auf der Hand, daß diese Formenwandlungen sich nicht innerhalb von Monaten oder Jahren abspielen können, sondern hier Marx bereits in längeren Zeithorizonten denkt. Nur an einer Stelle taucht überhaupt eine Jahreszahl auf: „Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist…“[6]. Das ist keine Ankündigung einer 1000jährigen Übergangsfrist, aber zeigt, daß das Ringen, in dem die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus seit ihrer Zeit als revolutionäre Twens in der Revolution von 1848 mit beteiligt sind, zweieinhalb Jahrzehnte später von Marx in einen etwas längeren Zeitrahmen gesetzt wird.
Wem angesichts mancher Aufgeregtheiten heutiger linker China-Debatten diese Hinweise nicht genügen, um ein wenig Längenwasser in die eigenen Zeithorizonte einfließen zu lassen, der sei auf eine etwas ältere und eine etwas jüngere Publikation der „Marxistischen Blätter“ hingewiesen.
Im Spätsommer 1998, also knapp zehn Jahre nach der Niederlage der an Marx orientierten Kräfte zwischen Elbe und Wladiwostok, befassten sich die „Marxistischen Blätter“ schwerpunktmäßig mit dem Thema „Indien, China und das Manifest – Entwicklungsalternativen heute“. Darin findet sich ein umfangreicher, von Dieter Lohaus ins Deutsche übersetzter Artikel, den der britische Marxist Frank Williamson zuerst in der „Communist Review“, dem theoretischen Organ der Kommunistischen Partei Britanniens (CPB) publiziert hatte. Unter der Überschrift „Chinas Weg zum Sozialismus“ gibt er auf gut 13 engen Druckseiten einen detaillierten Einblick in die damaligen Debatten und praktischen Entwicklungen in China und stellt als Hauptcharakteristikum fest: „Wichtigstes Element der neuen Politik ist die umfassende Annährung Chinas an den Markt. Nach dem frühen Erfolg der marktorientierten Politik im Bereich der Landwirtschaft verabschiedete das Zentralkomitee im November 1993 eine Resolution mit dem Titel ‚Die Einrichtung sozialistischer marktwirtschaftlicher Strukturen betreffend‘“[7]. Er führt die einzelnen Schritte dieses Programms dann aus, spiegelt sie am „Kommunistischen Manifest“ und kommt zu dem vorläufigen Schluss: „Wenn wir eine Zusammenfassung zu geben versuchen, wobei wir das alte Kriterium des Eigentums an den Produktionsmitteln zugrunde legen, so sieht das Ergebnis wie folgt aus: Die Schwerindustrie ist zu fast 100 Prozent staatlich; in der Leichtindustrie überwiegt das private Eigentum; die Landwirtschaft kennzeichnet ein – problematischer – Kompromiss. Alles in allem scheint eine enge Übereinstimmung zu bestehen mit Lenins Konzept, daß der sozialistische Staat die Kommandohöhen der Wirtschaft kontrollieren muß.“[8] Er verteidigt anschließend die Ausgestaltung dieser Generallinie mit dem Hinweis, China hätte begriffen, „daß der Markt ein guter Diener ist, aber ein schlechter Herr“[9] und zieht ein weiteres Zwischenresümee: „Als erstes können wir mit einiger Zuversicht feststellen, daß eine sozialistische Gesellschaft auf keinen Fall unvereinbar ist mit einer hinsichtlich des Eigentümertyps gemischten Wirtschaft. Die sozialistische Gesellschaft kann erfolgreich mit einem freien Markt leben, der das wichtigste Mittel für die Ermittlung der Preise und zur Regulierung bei der Verteilung der Güter ist. Zweitens ist festzuhalten, daß, wenn die sozialistische Revolution gesiegt hat und sich die Staatsmacht fest in den Händen der Arbeiterklasse befindet, der Weg zum Sozialismus lang ist und sich nach Generationen bemißt. Er reicht für eine unbestimmte Zeit weit in die Zukunft hinein, bevor wir damit beginnen können, ernsthaft die Probleme des Übergangs zu einer noch weiter fortgeschrittenen Gesellschaftsordnung, dem Kommunismus, in Angriff zu nehmen. … Unser Gesamteindruck von China ist also der eines Landes, das sich inmitten einer sozialistischen Revolution befindet, die notwendigerweise zugleich eine industrielle Revolution beinhaltet.“[10] Zum Schluß des Artikels kommt der Brite noch einmal fast beschwörend zur Frage des Zeithorizonts zurück: „Heute sind alle Marxisten – welcher Couleur auch immer – gezwungen, die Dinge langfristig zu betrachten. Dies gilt für den kritischen Moment, in dem die Macht durch die Arbeiterklasse gerade erobert worden ist, wie für den zweiten und langwierigeren Prozeß des Aufbaus des Sozialismus; wir müssen akzeptieren, daß beide Etappen des Weges wahrscheinlich lang sein werden.“[11]
Wir hatten oben den Entwicklungszeitraum von einem Vierteljahrhundert zwischen der ersten Schaffensperiode von Marx und Engels bis zur „Kritik des Gothaer Programms“ im Zeitraffer angeschaut. Möglicherweise ist der Zeitraum von jeweils einem Vierteljahrhundert – also grob einer Generationenfolge – ein ganz guter Maßstab zur Abmessung historischer Entwicklungen. Jedenfalls ist er wissenschaftlich fruchtbarer als das Quartalsejappere, das in westlichen Konzernen Gang und Gäbe ist. Wiederum grob ein Vierteljahrhundert später haben sich die „Marxistischen Blätter“ erneut[12] mit China befaßt und dazu ein Interview mit Enfu Cheng von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften abgedruckt, das den bezeichnenden Titel trägt „Fünfhundert Jahre Sozialismus aus chinesischer Sicht“. Dort führt er aus, Sozialismus „gibt es in auf der Welt seit 500 Jahren“[13], skizziert den Entwicklungsweg von den utopischen Sozialismus über Marx und Engels, die russische Oktoberrevolution bis hin zum „Sozialismus chinesischer Prägung seit Chinas Reform und Öffnung“. Das Interview atmet dieselbe gelassene, siegesgewisse Dialektik wie der zitierte Aufsatz von Williamson ein Vierteljahrhundert früher. Einerseits stellt Cheng hinsichtlich der langfristigen Entwicklungstrends fest, dass die Generalrichtung klar sei: „Der allgemeine Entwicklungstrend der gesellschaftlichen Entwicklung sind nicht Privateigentum und landwirtschaftliche Einzelbetriebe, sondern Genossenschaften, kollektive Formen des Wirtschaftens, staatlich betriebene Wirtschaft, weltweites gesellschaftliches Eigentum oder Volkseigentum als Eigentum aller Menschen dieser Welt.“[14] Es bliebe dabei: „Das Endziel der Menschheit ist der Kommunismus.“[15] Andererseits sei diese Entwicklung an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft, insbesondere die Entwicklung der Produktionsmittel – und er hebt in diesem Zusammenhang die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) Lenins als Beispiel hervor, „um den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft nach den Maßstäben von Marx und Engels zu ermöglichen.“[16]
175 Jahre nach dem „Kommunistischen Manifest“ liegt es auf der Hand, dass der Sieg des Sozialismus und die Öffnung des Weges zum einer Gesellschaft, in der „jeder nach seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen“ sein Leben gestalten kann, mehrere Jahrhunderte und auf allen Kontinenten unseres Planeten mehrerer Anläufe bedarf. Dabei verschieben sich die Gewichte dieser Entwicklung seit mehreren Jahrzehnten weg vom alten Kontinent, auf dem auch Marx und Engels den größten Teil ihres Lebens verbachten und erst recht weg von ihrem Geburtsland, in dem wir als deutsche Marxistinnen und Marxisten weiter wirken. Wir brauchen aber zwischen Oder und Rhein unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Aus diesem Land – vor allem seinen östlichen Teil - gab es Impulse, die in diesen revolutionären Weltprozess eingeflossen sind und weiter wirken.
II.
Die Bedeutung der DDR als bisher größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung wurzelt auch darin, daß sie klarer als die Sowjetunion die Notwendigkeit eines weiteren Zeithorizonts und der damit zusammenhängenden Orientierung auf historisch längere Übergangsperioden nicht nur theoretisch formuliert, sondern (vor allem mit der auf Lenin und seine NÖP zurückgreifenden Politik des NÖS) auch praktiziert und damit wirkungsmächtig gemacht hat.
Die Sicht Walter Ulbrichts und damit der DDR in ihren goldenen Jahren deckt sich theoretisch mit der heutigen Sicht der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften auf die vergangenen „500 Jahre Sozialismus“ und die kommenden 500 Jahre, an deren Schwelle wir uns befinden. Die theoretische und praktische Verschränkung dieser Politik der SED zur Zeit des NÖS mit der aktuellen praktischen Politik der KP Chinas ist stärker als das gegenwärtig in Deutschland begriffen wird.
Wer sich heute China mit eigenen Augen ansehen möchte, kann bei der Organisation einer solchen Reise auf mehrere privat organisierte Reisebüros zurückgreifen. Die besseren von ihnen haben unter anderem die 798-Kunstzone in Peking im Angebot. Die ist nicht nur hinsichtlich des hohen kulturellen Niveaus dieses aufstrebenden Landes interessant, sondern auch wegen ihrer Vergangenheit. Die Gebäude – errichtet in der Dessauer Traditionslinie des fortschrittlichen Teils der Bauhaus-Architektur – beherbergten in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Funkgerätekombinat, das mit Unterstützung der DDR dort errichtet wurde. Obwohl dieses kleine Land damals noch selbst, heftig bekämpft vom westlichen Ausland, um seine Existenz ringen musste, schickten 43 Firmen und Kombinate der jungen sozialistischen Republik ihre Techniker und Ingenieure nach China, die nach der 1957 abgeschlossenen fünfjährigen Aufbauphase rund 40.000 chinesische Arbeitskräfte in die Lage versetzten, China mit damals im eigenen Land nicht zu entwickelnder moderner Radio- und Funktechnik zu versorgen. Die enge Verbundenheit Chinas mit der DDR in den 1950er Jahren kam auch dadurch zu Ausdruck, daß zu den Weltfestspielen der Jugend 1951 aus China drei Sonderzüge mit Jugendlichen nach Berlin kamen – während Jugendliche aus dem Westen sich heimlich über die grüne Grenze, verfolgt von westdeutschen Grenzpolizisten in den Ostteil Berlins durchschlagen mussten. Es ist nicht zu viel gesagt, daß die internationale Solidarität, die China heute politisch durch die Unterstützung fortschrittlicher Kräfte auf der ganzen Welt und ökonomisch durch die Belt-and-Road-Initiative entfaltet, ihre Wurzeln auch in der Solidarität zwischen der DDR und der Volksrepublik China hat.
Am 29. September 2023 veröffentlichte Herbert Münchow in der UZ unter dem Titel „Lohnende Debatte“ eine Darlegung über „Walter Ulbrichts Überlegungen zur Entwicklung des Sozialismus auf eigener Grundlage“, in dem es heißt: „Die von Ulbricht maßgeblich vertretene Sozialismuskonzeption hatte ihren Ursprung in den konkreten historischen Erfahrungen insbesondere der Sowjetunion, den Bedingungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten des sozialistischen Aufbaus in der DDR sowie den Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin. ‚Es ging um nicht weniger‘, beschreibt Harry Nick die Situation, ‚ als um ein anderes Sozialismusbild: Der Sozialismus solle nicht mehr (…) als relativ kurze historische Durchgangsperiode verstanden werden, in der die aus dem Kapitalismus überkommenen ‚Muttermale‘ Geldwirtschaft und Leistungsprinzip allmählich an Bedeutung verlören, wie in einem Fegefeuer abgezundert werden, um möglichst schnell zu den lichten Höhen des Kommunismus, zur eigentlichen kommunistischen Gesellschaft zu gelangen‘. Die SED folgte damit der Strategie des XXII. Parteitags der KPdSU im Oktober 1961 nicht. Ihre Gesellschaftsstrategie, die eine organische Verbindung der Erfordernisse der wissenschaftlichen Revolution mit der demokratischen Entwicklung des politischen Systems des Sozialismus in der DDR anstrebte, war nicht der Übergang zum Aufbau des Kommunismus, sondern die Entwicklung und Vervollkommnung des Sozialismus auf der ihm eigenen Grundlage. Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 wurde das ‚Neue Ökonomische System‘ (NÖS) auf den Weg gebracht, das später, wie Nick an anderer Stelle einschätzt, ‚in seiner zentralen Idee aus politischen Gründen scheiterte‘. … Aus der These der ‚Entwicklung des Sozialismus auf eigener Grundlage‘ ergab sich die These vom Sozialismus als einer ‚relativ selbstständigen Gesellschaftsformation‘. … Ulbricht bezeichnete es als ‚die wichtigste Schlussfolgerung‘, zu der die Partei in diesem Zusammenhang gelangt sei, ‚dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsperiode in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab.‘“.
Die Parallele der ulbricht’schen Gedanken und der entsprechenden Praxis der DDR in den 1960er Jahren zur heutigen Theorie und Praxis der kommunistischen Partei, die wir oben anhand der Überlegungen von Enfu Cheng skizziert haben, liegt auf der Hand. Anzumerken ist allerdings: Es würde zu kurz greifen (und im übrigen noch Muttermale eurozentristischer Arroganz beinhalten), wenn die heutige Politik Chinas nur als eine Art asiatische Anwendung von NÖP und NÖS begriffen würde. Sie geht in ihrem Wagemut, den Markt und das ökonomische Interesse einzelner an der Aneignung von Mehrwert als Zugpferd der Produktivitätsentwicklung einzusetzen, sowohl über das, was Lenin wagte als auch über das, was Ulbricht wagte, hinaus.
Mit Blick auf die zurückliegende 65jährige Etappe innerhalb der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus[17] läßt sich zu Recht mit Münchow sagen, daß es sich hier um einen Kampf handelt, „der sich über viele Generationen hinzieht“. Es zeigt auch: Wir sollten als deutsche Marxistinnen und Marxisten die DDR nicht nur politisch-praktisch von niemanden klein machen lassen. Sie war auch in ihrer Theoriebildung das Wertvollste, was Deutsche in den letzten 100 Jahren in die Welt gestellt haben.
Ob die heutigen Generationen von sozialistisch orientierten Menschen zwischen Rhein und Oder diese Traditionslinie fortsetzen oder historisch versickern, entscheidet sich auch an der korrekten Bestimmung des Platzes, in dem Deutschland heute innerhalb der zitierten „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus“ steht.
Damit zur letzten These:
III.
Wir befinden uns weiterhin in der sich nicht über einige Jahrzehnte, sondern einige Jahrhunderte hinziehenden Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus, damit in der Epoche der Überwindung der mit der Sklavenhaltergesellschaft entstandenen Klassengesellschaft und so in der Epoche des Abschlusses der menschlichen Vorgeschichte. Dieser Übergang bedarf mehrerer Anläufe auf unterschiedlichen Kontinenten. Die gegenwärtige Etappe in dieser Epoche ist in doppelter Hinsicht von der Schaffung der Voraussetzungen für die Durchsetzung des Sozialismus gekennzeichnet. Dessen Durchsetzung als die weltweit dominierende Form der staatlichen Verfasstheit einer zu einer Einheit erst zusammenwachsenden kommunistischen Weltgesellschaft beinhaltet die Notwendigkeit des Brechens der Dominanz des US-Imperialismus als eine jetzt auf der Tagesordnung stehende Voraussetzung für die friedliche Entfaltung der diese sozialistische Etappe prägenden Widersprüche.
Die „Internationale“, entstanden 1871 nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune, weltweit als Abschluss kommunistischer Parteitage und auch bei Gewerkschaftstagen gesungen, beinhaltet den Aufruf zum “letzten Gefecht“. Wir singen diese Zeile heute in dem Bewusstsein, dass dieses „letzte Gefecht“ aus einer ganzen Serie von Gefechten rund um den Globus besteht, die alle ein Ziel, aber ganz unterschiedlichen Charakter haben. Sie enden mal mit Siegen wie 1917 oder 1949 oder 1975, mal in Niederlagen wie 1871, 1933 oder 1989. Seit den Tagen der Kommune ist der wissenschaftliche Sozialismus nicht mehr nur Gegenstand theoretischer Debatten, sondern praktische Politik. Der Siegeszug dieser Ideen und ihrer Praxis beinhaltet wie jede große geschichtliche Bewegung nicht nur Triumphe, sondern auch tragische Niederlagen. Aber unter dem Banner dieser Idee versammelten sich in Paris rund 1,8 Millionen Menschen. Wenige Jahrzehnte später waren es in Rußland 180 Millionen Menschen und trotz des Rückschlags von 1989 sind es heute über 1,5 Milliarden Menschen, die durch ihr alltäglichen Leben an der Errichtung der neuen Gesellschaft arbeiten. Der Anlauf von Paris währte 72 Tage, der nach den Schüssen der Aurora in St. Petersburg 72 Jahre, der in China währt nun schon bald 75 Jahre.
Es gab und gibt in der menschlichen Geschichte viele Bewegungen, die in mehreren Ländern Fuß fassen. Es gab und gibt aber nur eine einzige Bewegung, deren Mitglieder von sich sagen können: „Menschen meiner Weltanschauung gibt es in jedem Land auf diesem Globus. Manchmal illegal, meistens legal, manchmal sogar an der Macht: Eine kommunistische Partei gibt es überall. Es gibt keine größere Stadt auf dieser Welt, in der ich nicht Genossinnen und Genossen habe.“
Die in diesen Parteien zusammengeschlossenen Menschen sind diejenigen, die weltweit den komplizierten und langwierigen Prozess des Epochenübergangs von der Klassen- zur klassenlosen Gesellschaft an führender Stelle organisieren. Gelernt haben diese Millionen ganz unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Bildungsgrades und Herkunft nicht nur, dass dieses im wahrsten Sinne des Wortes epochenmachende Werk nicht nur viele Generationen mutiger und kühner Kämpferinnen und Kämpfer benötigt, sondern auch, dass die Wege zum gemeinsamen Ziel verschlungen und unterschiedlich sind. Das Begreifen dieser doch recht einfachen geschichtlichen Tatsache könnte und sollte manche Aufgeregtheiten deutscher Debatten über China dämpfen können. Um es etwas überspitzt zu sagen: Die Debatten über den Sozialismus chinesischer Prägung haben gar nichts zu tun mit den Debatten über den zweiten Anlauf zum Sozialismus deutscher Prägung, der ja noch vor uns liegt und dessen Spezifika noch niemand ausgearbeitet hat und auch zur Zeit noch niemand ausarbeiten kann. Das hängt mit mindestens drei Dingen zusammen.
Zum einen wird der zweite Anlauf zum Sozialismus in Deutschland hoffentlich ein Anlauf auf einem im internationalen Maßstab sehr hohen Niveau der Entfaltung der Produktivkräfte sein. Es ist immerhin denkmöglich, daß dieser deutsche Sozialismus 2.0 weniger als der derzeitige chinesischer Prägung oder der in der DDR die Nutzung der Dynamik privaten Interesses bei der Entfaltung der Produktivkräfte braucht. Es kann sein, daß er stärker Planelemente gegenüber dem Markt akzentuieren kann. Vielleicht kann er sogar die Überwindung der Ware-Geld-Beziehung schneller ins Auge fassen als Länder, für die der Kampf um die Produktivität noch der Dreh- und Angelpunkt alles revolutionären Denkens und Handelns sein muss, weil sie sonst vom Imperialismus genauso zerquetscht werden wie Chile, die Sowjetunion oder die DDR. Auch in dieser Hinsicht gilt die Warnung von Marx, bitte keine Rezepte für die Garküche der Zukunft auszustellen – und schon gar keine für die Garküchen anderer Länder, die das gerade schaffen, an dem wir Deutsche historisch nun einmal vorübergehend gescheitert sind.
Vor allem aber haben wir in diesen zurückliegenden 1,5 Jahrhunderten gelernt, dass schon die Errichtung der ersten Phase des Kommunismus, also des Sozialismus als relativ eigenständiger Etappe des Epochenübergangs in doppelter Hinsicht von der Schaffung von Voraussetzungen für seine Entfaltung geprägt ist.
Das sind zum einen die nach innen gerichteten Voraussetzungen. Von denen hat die wichtigste die Volksrepublik China jahrzehntelang ohne jedes Wackeln und Träumen fest in den Blick genommen: Ohne Überwindung der Armut kann sich kein Sozialismus entfalten. Bevor nicht die Armut beseitigt ist, bevor also ein Land mit sozialistischer Orientierung nicht in seinen eigenen Grenzen die Produktivkräfte so entfaltet hat, dass das möglich ist, sind alle Sozialismusdiskussionen, die das nicht in den Mittelpunkt stellen, Träumerei oder schlimmeres, weil sie von diesem Hauptziel ablenken. In der historischen Nachbetrachtung[18] werden kommende Generationen von Marxistinnen und Marxisten möglicherweise feststellen, daß objektiv die DDR noch gar nicht am Sozialismus – schon gar nicht an der zweiten Phase, dem Kommunismus – gearbeitet hat, sondern noch an der Schaffung der inneren Voraussetzungen für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft- so wie die chinesische Partei in ihrem Selbstverständnis noch in der Vorbereitungs- und Anfangsphase der Schaffung des Sozialismus als erster Phase der kommunistischen Entwicklung werkelt.
Damit kommen wir abschließend zum dritten Aspekt jeder sozialistischen Perspektive in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Die nächsten Schritte zur weiteren Entfaltung des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus sind zwingend an die Schaffung entsprechender internationaler Voraussetzungen gebunden.
Der 2018 verstorbene marxistische Philosoph und Historiker Domenico Losurdo veröffentlichte 2017 sein Werk „Il marxismo occidentale – come nacque, come morì, come può rinascere“. Dort geißelt er die Arroganz des westlichen Marxismus. Er beleuchtet den grellen Kontrast seiner Unfähigkeit, revolutionäre Bewegungen in den kapitalistischen Hochburgen zum Sieg zu führen, zu den umso stärkeren, mit „messianischen Erwartungen“[19] aufgeladenen Belehrungen gegenüber sozialistischen Bewegungen jenseits dieser Hochburgen. Kern seines Niedergangs sei „die Unfähigkeit des westlichen Marxismus, sich mit der antikolonialen Revolution zu vereinigen.“[20]
Das war geschrieben und sogar ins Deutsche übersetzt vor dem 24. Februar 2022, als die Russische Föderation sich entschloss, aktiv in den seit 2014 tobenden Krieg der Regierung in Kiew gegen die Donbass-Republiken einzugreifen. Spätestens beginnend mit diesem Tag begreifen Millionen und buchstäblich Milliarden von Menschen in aller Welt (meistens außerhalb des westeuropäischen Zipfels des asiatischen Kontinents und der USA), daß die weltweiten Debatten und Handlungen um und in der Ukraine, um und in den palästinensischen Gebieten, um und in der Taiwan-Straße nicht mehr und nicht weniger als eine entscheidende Etappe in der Vollendung des antikolonialen Befreiungskampfes sind.
Die Erbitterung, mit der der USA/NATO/EU/Japan-Block seine geschichtlich gewachsene und mit allerlei Werteschmalz umhüllte Vormachtstellung in der Welt verteidigt, erinnert alle Sozialistinnen und Sozialisten in Deutschland, die 1989 der Feierbesoffenheit am Brandenburger Tor nicht erlegen sind, daran: Diese damalige Niederlage, die in der Übernahme der DDR durch die BRD mündete, war ja nicht nur hausgemacht. Sie war auch das Ergebnis des unbedingten Willens der USA und seiner Verbündeten, die SU, die DDR und die anderen Volksdemokratien zu zerschlagen. Derselbe unbedingte Wille, alle sozialistischen Ansätze[21] notfalls blutig zu ersticken, wird heute in dem Furor deutlich, mit dem sie gegen die sich um China herum gruppierenden BRICS-Staaten wüten. Hoffnung gibt erstens die Tatsache, dass der Sozialismus heute nicht schwächer, sondern verglichen mit den USA und ihren Verbündeten stärker ist als er es zwischen 1949 und 1989 war. Zweitens hat die Volksrepublik China eben – s.o. – gelernt, dass der Sozialismus auf Dauer nur siegen kann, wenn er (um fast jeden Preis) in der Produktivkraftentwicklung die kapitalistischen Staaten hinter sich lässt statt hinter ihnen her um Anschluss an die „Weltspitze“ zu kämpfen, wie das die Sowjetunion, die DDR und die anderen Länder des Warschauer Vertrags vergeblich jahrzehntelang versucht haben.
Kommunistinnen und Kommunisten in Deutschland haben die russische Oktoberrevolution 1917 als Sieg der sozialistischen Idee gefeiert. Das war sie auch. Sie war aber eben – aus deutscher und westeuropäischer Sicht wenig gesehen – auch der Startschuss für den Zerfall der alten Kolonialreiche. Unter Würdigung der Ereignisse von 1989 lässt sich in der geschichtlichen Nachbetrachtung sagen: Die Bedeutung des roten Oktober als Beginn des antikolonialen Befreiungskampfes steht gleichberechtigt neben seiner Bedeutung als Startschuss für die Entwicklung des realen Sozialismus und wirkt für den weltweiten Prozess des Epochenwandels über das Jahr 1989 noch stärker hinaus.
Das hat fundamentale Auswirkung für die Bestimmung der Hauptaufgaben aller an Marx und Engels orientierten Kräfte in Deutschland. Wir wissen mit den Erfahrungen mit 1989 im Rücken heute: Ohne die Vollendung des antikolonialen Befreiungskampfes, ohne das Brechen der weltweiten Dominanz des USA/NATO/EU-Blocks wird es keine weltweite Entfaltung einer sozialistischen Perspektive geben.
Der dänische Marxist Torkil Lauesen antworte am 2./3. Dezember in der jungen welt auf die Frage, wie denn angesichts der Entwicklungen in der Welt ein „Widerstand in den imperialistischen Ländern konkret aussehen“ könne, so: „Wir dürfen im Kampf für den Frieden nicht sektiererisch sein, sondern müssen möglichst breite Allianzen bilden und die sozialistischen Bewegungen im globalen Süden so gut wie wir können unterstützen. Wir müssen versuchen, den gemeinsamen Arbeitskampf zwischen Nord und Süd zu fördern, über die Produktionsketten hinweg und dann den Kampf für den Sozialismus im Süden unterstützen. … Im globalen Norden herrscht seit Jahrzehnten Pessimismus in Bezug auf eine umfassende Transformation zum Sozialismus. Wir werden dabei nämlich nicht an vorderster Front stehen, die treibende Kraft wird der globale Süden sein, aber ich denke, insgesamt bewegt sich die Welt in die richtige Richtung. Die objektiven Bedingungen für grundlegende Veränderungen sind aktuell günstig, weil sich das System in einer strukturellen Krise befindet, also instabil ist. … Der Kapitalismus ist nicht mehr fortschrittlich in bezug auf die Entwicklung der Produktivkräfte – er ist zerstörerisch und verhindert den Fortschritt der Menschheit. Die Erosion des neoliberalen Weltmarktes und alternative politische und finanzielle Institutionen ohne den Dollar als Welthandelswährung können das Gleichgewicht verändern.“
In den kommenden Stürmen wird es mitunter nicht leicht sein, standhaft und bei klarem Kopf zu bleiben. Das international entscheidende Kettenglied ist das Brechen der Dominanz der alten Kolonialmächte einschließlich den USA und Japan und die Abwehr ihrer Versuche, die Welt mit sich in ihren Untergang zu reißen. Ohne die Lösung dieser beiden Hauptaufgaben strampeln alle hiesigen Sozialismusdebatten ohne Bodenkontakt in der Luft. China wird seinen Weg mit oder ohne deutsche Debatten genauso finden wie die Genossinnen und Genossen in Russland den ihren. Unsere aktuelle Hauptaufgabe besteht darin, der Militär- und Propagandamaschine Deutschlands möglichst wirksam Widerstand entgegenzusetzen. Dieses Land darf nicht noch einmal die Welt in Brand stecken - hic Rhodus, hic salta!
Manfred Sohn
[1] Marx Engels Werke (im folgenden MEW), Band 19, Berlin 1976, S. 11 bis 32
[2] Ebenda, S. 13
[3] Ebenda, S. 19 und 20
[4] Ebenda, S. 21
[5] Ebenda, S. 27f . auch die folgenden Zitate von dort
[6] Ebenda, S. 29
[7] Frank Williamson, Chinas Weg zum Sozialismus, in: Marxistische Blätter 4/98, Essen 1998, S. 59
[8] Ebenda, S. 63
[9] Ebenda, S. 67
[10] Ebenda, S. 67f
[11] Ebenda, S. 69
[12] Zwischendurch natürlich auch immer wieder – etwa mit dem Schwerpunkt „China, Vietnam, Cuba, Chile … - Wege des Sozialismus“ in der Ausgabe 6/2020
[13] Enfu Cheng, Fünfhundert Jahre Sozialismus aus chinesischer Sicht, Beilage der „Marxistischen Blätter“, Ausgabe 4/2021, Essen 2021, S. 1 – Folgezitat S. 2
[14] Ebenda, S. 6
[15] Ebenda, S. 8
[16] Ebenda, S. 12
[17] Unter Einbeziehung der praktischen Hilfe der DDR zum Beispiel beim Aufbau der technologischen Grundlagen der VR China sind es seitdem rund 75 Jahre, also drei Generationen
[18] Hier mag dann doch ein bisschen Träumerei erlaubt sein: Beim Aufbruch zum zweiten deutschen Anlauf zum Sozialismus wird es hoffentlich einen ganzen Lehrstuhl „Auswertung der Schatztruhe DDR“ geben, durch den angeleitet Studierende aller Fachrichtungen die roten deutschen Jahre von 1949 bis 1989 durchkämmen, um aus ihnen für die dann kommende Praxis Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Traum beinhaltet die historische Pflicht aller aus dieser Zeit heute noch lebenden, nicht in die Kiste zu steigen, bevor sie ihre Erfahrungen nicht niedergeschrieben haben.
[19] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – wie er entstand, verschied und auferstehen könnte – Köln 2021, S. 225.
[20] Ebenda, S. 227
[21] Sie haben intern schärfer auf dem Schirm als ihre Medien, wer die stärkste Oppositionskraft in der russischen Duma ist: Die Kommunistische Partei