Die Bedeutung Chinas für den Rest der Welt
Die Niederlage der Revolution von 1848/49 bedeutet Karl Marx und Friedrich Engels auch persönlich einen tiefen Einschnitt. Wie so viele andere müssen sie, um Haft oder Tod zu entgehen, vor der siegenden deutschen Reaktion ins Ausland fliehen. Engels arbeitet für die väterliche Fabrik in Manchester, Marx studiert in London vor allem ökonomische Texte und versuchte, seine wachsende Familie ökonomisch durch das Abfassen von Zeitungsartikeln über Wasser zu halten. Er schreibt wie der Teufel. Allein vom März bis Dezember 1853 – also vor jetzt 170 Jahren – schickt der 35jährige so viele Texte an US-amerikanische und auch europäische Zeitungen, daß sie zusammen mit denen, die Engels vor allem zu militärischen Fragen verfasst, heute über 550 Druckseiten der „Marx Engels Werke, Band 9“ umfassen. „Rechnen“, wie wir heute wohl sagen würden, tut sich diese Herkulesarbeit nicht: Schon im Frühjahr 1853 befindet sich die Familie Marx in materieller Notlage, weil viele Zeitungen auf dem alten Kontinent sich scheuen, Artikel des ehemaligen Chefredakteurs der „Rheinischen Zeiung“ trotz aller Anerkennung, die sie erhalten, zu veröffentlichen und weil die „New-York Daily Tribune“, der Adressat der meisten von Marx‘ Artikeln, unregelmäßig zahlt. Zum Glück hat die Familie ihren Friedrich: Engels hilft ihnen mit Abzweigungen aus seinem Geschäftsführergehalt aus der schlimmsten Not heraus. Das ist auch deshalb ein großer Segen, weil so Marx trotz unregelmäßiger Zahlungseingänge diese Artikel weiterschreiben kann. Sie sind heute in den „MEW 9“ nachzulesen. Weil in diesem Band kein größerer Artikel der beiden steht, liegt er im Windschatten wissenschaftlicher und publizistischer Aufmerksamkeit selbst linker Kreise. Das ist vor allem aus zwei Gründen schade und sollte korrigiert werden.
Zum einen und allgemein gesprochen zeigt der Band, wie intensiv sich Marx neben historischen und abstrakten mit ganz konkreten aktuellen politischen und ökonomischen Fragen befaßt und beides in seinem Hirn miteinander verarbeitet. Wie wichtig das ist, zeigt ein bissiger Hinweis des 2018 gestorbenen italienischen Marxisten und Philosophen Dominico Losurdo, der in seinem Buch „Der westliche Marxismus“[1] dessen fatale Neigung geißelt, die scheinbar hehre reine Lehre zu trennen vom schmutzigen geschichtlichen Tagesprozess. Hegel, so zitiert Losurdo dessen Biografen „betrieb … die Zeitungslektüre im ausgedehntesten Umfang, wie nur ein Staatsmann es tun kann“[2] und er stellt fest: „Das ist ein Zeugnis, das einen Lichtstrahl auf den Arbeitstisch und in das Arbeitszimmer des großen Philosophen wirft. Offenbar liegen dort, neben den Klassikern der Philosophie und der Wissenschaft, auch Ausschnitte der deutschen und internationalen Presse. Seine (Hegels – MS) Philosophie wird durch unaufhörlichen Vergleich mit seiner eigenen Zeit erarbeitet. Die politischen Ereignisse werden gründlich untersucht, ohne dass er sich je ihrer Unmittelbarkeit unterwirft.“ Der Schreibtisch von Marx, so Losurdo, „sieht nicht anders aus“. Diese enge Verbindung von Theorie und Praxis, die alle Werke sowohl von Hegel als auch von Marx – übrigens auch von Lenin oder Luxemburg – auszeichnet, ist bei vielen Vertretern des von Losurdo kritisierten „westlichen Marxismus“ nicht festzustellen. „Man kann … sagen, dass der Schreibtisch der Vertreter des westlichen Marxismus sich oft ziemlich von dem unterscheidet, den wir bei Hegel und Marx gesehen haben.“[3] Süffisant weist er auf das fast völlig Fehlen von tagespolitischen Bezügen im Werk von Max Horkheimer hin und mutmaßt, statt sich mit den Widersprüchen und Konflikten der Gegenwart abzuplagen, „war er lieber ein Prophet, der sich vor Sehnsucht oder Liebe für eine völlig neue Welt verzehrte“. Wie intensiv sich Marx und Engels im Gegensatz zum Beispiel mit Horkheimer mit den „Widersprüchen und Konflikten der Gegenwart“ auseinandersetzten, wie tief sie sich in die Geschichte und die ökonomischen Bedingungen praktisch aller Teile der Erde einarbeiteten, wird im Band 9 der Werke von Marx und Engels deutlich. Ohne ein solches Herangehen ist keine fortschrittliche Wissenschaft oder Philosophie möglich.
Das gilt aber nicht nur abstrakt, sondern auch mit Blick auf heute sehr konkret. Am 14. Juni 1853 erscheint in der New-York Daily Tribune ein Leitartikel von Marx unter der Überschrift: „Die Revolution in China und in Europa“[4]. Nach einer allgemeinen, auf Hegel verweisenden Vorbemerkung über die „Einheit der Gegensätze“ kommt er ohne weitere Umschweife auf das entfernte China zu sprechen – von dem die heutigen China-Basher wahrscheinlich noch nicht einmal wissen, daß es dort vor 170 Jahren überhaupt eine Revolution gegeben hat und befasst sich im Folgenden mit dem „Einfluss, den die chinesische Revolution aller Wahrscheinlichkeit nach auf die zivilisierte Welt ausüben wird… Scheinbar ist es eine sehr seltsame und sehr paradoxe Behauptung, daß die nächste Erhebung der Völker Europas und ihr nächster Schritt im Kampf für republikanische Freiheiten und ein wohlfeileres Regierungssystem wahrscheinlich in großem Maße davon abhängen dürfte, was sich jetzt im Reich des Himmels – dem direkten Gegenpol Europas – abspielt, mehr als von jeder anderen zur Zeit bestehenden politischen Ursache –mehr sogar als von den Drohungen Rußlands und deren Folgen, nämlich der Wahrscheinlichkeit eines gesamteuropäischen Krieges.[5] Dennoch ist es kein Paradox, das werden alle einsehen, die die näheren Umstände der Angelegenheit aufmerksam betrachten.“ Intensiv und plastisch stellt Marx auf den folgenden Seiten dar, wie eng der damalige Niedergang des einst stolzen chinesischen Kaiserreiches mit dem aggressiven Auftreten des aufkommenden europäischen, insbesondere britischen Kapitalismus verknüpft war und fasst dann zusammen: „All diese Zersetzungsfaktoren wirkten gemeinsam auf die Finanzen, die Moral, die Industrie und die politische Struktur Chinas ein und kamen 1840 zu voller Entfaltung unter den englischen Kanonen, die die Autorität des Kaisers zertrümmerten und das Reich des Himmels zwangsweise mit der Erdenwelt in Berührung brachten. Zur Erhaltung des alten China war völlige Abschließung die Hauptbedingung. Da diese Abschließung nun durch England ihr gewaltsames Ende gefunden hat, muß der Zerfall so sicher erfolgen wie bei einer sorgsam in einem hermetisch verschlossenen Sarg aufbewahrten Mumie, sobald sie mit frischer Luft in Berührung kommt.“ Aber die Geschichte dieser gewaltsam herbeigeführten engen Verknüpfung Chinas mit Europa endete 1840 nicht. Denn zu der in China viel genauer als hierzulande studierten Dialektik der Geschichte von Europa und China gehören eben auch die von Marx in seinen Artikeln analysierten Ereignisse der frühen 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Seit 1851 hatten sich mit wachsender Resonanz antifeudale Befreiungsbewegungen entfaltet, die sich gegen die dank Londoner Intervention zunehmend zerrütteten Lebensbedingungen in China richteten. Seit dem ersten Opiumkrieg von 1839-42, auf den Marx hier zu sprechen kommt, war China von England mit Waffengewalt gezwungen worden, seine Märkte gegenüber britischen Industriewaren zu öffnen. China wurde mit dem sogenannten Friedensvertrag von Nanking vom August 1842 faktisch eine Kolonie: Fünf chinesische Häfen wurden für den Handel mit England geöffnet, Hongkong wurde „auf ewige Zeit“ an England verpachtet und tonnenweise wurde als Kontribution Silber – die damalige Grundlage der chinesischen Währung – nach England verschifft. China musste außerdem Ausländern das Recht zugestehen, außerhalb der chinesischen Justiz zu stehen. Wer glaubt, das sei alles Schnee von gestern, irrt. In allen etwas längeren Dokumenten aus der heutigen Volksrepublik China ist von einem „Jahrhundert der Demütigungen“ zu lesen, das mit der Revolution von 1949 endete und nie wieder kommen dürfe. Die „Hundert Jahre der Demütigungen“, schreibt Beat Schneider, hätten sich „tief ins kollektive Gedächtnis Chinas eingebrannt“[6] und erläutert dies mit Hinweis auf genau die Zeit, die Marx hier beschreibt. Die „Kaskade der Demütigungen … begann mit dem Opium, das bei der Unterwerfung Chinas durch die Kolonialmächte eine verheerende Rolle spielte. In den Opiumkriegen (1840-42 und 1856-60) erzwang Großbritannien die Öffnung Chinas für den britischen Export von in Indien produziertem Opium. Großbritannien baute das umfangreichste Drogenhandelszentrum der Welt auf, etwas, was es bisher noch nicht gegeben hatte. … Trotz Widerstand musste China den Opiumhandel legalisieren. Großbritannien nahm in Kauf, dass Millionen Chinesinnen und Chinesen vom Opium abhängig wurden, was zu immensem sozialem Elend führte. … Es kam zu einer ‚Politik der offenen Tür‘.“[7] Der von dieser Welle des Elends ausgelöste Aufstand breitete sich, wie Marx hier schon im Titel des zitierten Artikels schreibt, zu einer „Revolution“ aus. Die Aufständischen strebten das „Himmlische Reich der großen Gerechtigkeit“ an – im Chinesischen: Taiping tiän-guo. Der danach benannte Taiping-Aufstand, dessen Beginn und Entstehungsursachen Marx vor 170 Jahren analysiert, tobte bis 1864 und gilt mit seinen 30 Millionen Toten als blutigster Krieg der Weltgeschichte[8]. Er wird im Wertewesten bis heute ebenso ignoriert wie sein Ende: Im Taiping-Staat bildete sich eine Oberschicht heraus, die mit den herrschenden Mächten einen Klassenkompromiß eingingen. Entscheidend für dessen Durchsetzung gegen die Interessen der Mehrheit der aufständischen Bauern war, daß sich die europäischen Mächte, allen voran Großbritannien, mit den feudalen alten Mächten zusammentaten und den Taiping-Aufstand 1864 militärisch niederwarfen.
Das alles ist nur scheinbar längst vergangene Geschichte. Wer auch nur ansatzweise verstehen will, was heute in Milliarden menschlicher Köpfe außerhalb der zunehmend in einer Blase lebenden Gesellschaften des NATO-Wertwestens vor sich geht, wird sich mit dieser Geschichte zu befassen haben – wenigstens so intensiv mit Karl Marx und Friedrich Engels das heute vor 170 Jahren getan haben.
Wer das tut, wird zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Marx kommen – nämlich erstens, dass Entwicklungen in China große Auswirkungen auf das Schicksal der hier im alten Europa lebenden Menschen haben und zweitens, daß in unseren Zeiten den alten imperialistischen Mächten die Rechnungen für das Jahrhundert der Demütigungen präsentiert werden, das sie dem Rest der Welt aufgezwungen haben. Aber noch zwei weitere Hinweise sind im zitierten, hochaktuellen Marx-Text versteckt: Erstens, daß die Abschottung von der Welt, die jetzt ironischerweise nicht mehr China, sondern der G-7-Block zunehmend zelebriert, nur im Verfall einer „Mumie“ enden kann, „sobald sie mit frischer Luft in Berührung kommt“. Und zweitens könnte es ja sein, daß die Bereitschaft, sich China etwas genauer anzusehen, doch in einigen Jahren oder Jahrzehnten dazu führt, „die nächste Erhebung der Völker Europas“ zu befördert.
Manfred Sohn
[1] Ebender, Der westliche Marxismus – wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, Köln 2021
[2] ebenda, S. 253 – wie auch die beiden nachfolgenden Zitate.
[3] Ebenda, dieses und nachfolgendes Zitat S. 255
[4] Marx Engels Werke (im folgenden MEW), Band 9, Berlin 1960, S. 95-102, alle folgenden Zitate soweit nicht anders angemerkt daraus
[5] Diese hellsichtige Anmerkung bezieht sich auf den damals sich abzeichnenden Konflikt, der sich vor nunmehr ebenfalls fast genau 170 Jahren, am 5. Oktober 1853 im Krimkrieg entlud, in dem Rußland gegen das Osmanische Reich, unterstützt von Frankreich und England, stand. Wer den verstehen will, wird ohne ein Studium dieser MEW 9 nicht auskommen.
[6] Beat Schneider, Chinas langer Marsch in die Moderne, Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen, Köln 2023, S. 65
[7] Ebenda, S. 67
[8] ebenda