Logo Marx-engels-StiftungMarx-Engels-Stiftung e.V. · Gathe 55 · 42107 Wuppertal · Tel: +49 202 456504 · marx-engels-stiftung@t-online.de

Bis in unsere Provinzpresse hinein reichte das Beben, das der Erfolg der „Kommunistischen Partei Österreich plus“ bei den Landtagswahlen im Bundesland Salzburg am 23. April 2023 auslöste. Mit 11,7 Prozent der Wählerstimmen zogen die Kommunistinnen und Kommunisten in den dortigen Landtag ein. Reichlich konsterniert stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) am 25. April fest: „Damit ist Salzburg bereits das zweite tiefrote Einsprengsel in Österreich, neben der Steiermark mit ihrer Hauptstadt Graz unter KPÖ-Bürgermeisterin Elke Kahr.“ Das „Göttinger Tageblatt“ vermerkte am selben Tag irritiert: „Die Bilder am Sonntagabend aus dem Salzburger Musikclub Jazzit zeigen sehr viele lauthals jubelnde Menschen. Auffällig ist, wie jung die allermeisten von ihnen sind. Doch hier ist keine Clubparty, es feiern die Kommunisten ihren Wahlerfolg im österreichischen Bundesland Salzburg. Das ist die Sensation dieser Landtagswahl: Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) kommt wie aus dem Nichts auf 11,7 Prozent der Stimmen. 2018 waren es noch typische 0,4 Prozent. In der Stadt Salzburg mit ihren 160 000 Einwohnerinnen und Einwohnern erreicht die als KPÖ plus angetretene Gruppe gar knapp 22 Prozent und liegt dort auf Platz zwei, nur 2,5 Punkte hinter der konservativen ÖVP. Seit 1949 ist die KPÖ damit erstmals wieder im Salzburger Landtag vertreten, und das mit gleich vier Parlamentariern. Wie kann das sein?


Neuer Kommunisten-Star ist der 34-jährige Historiker und Museumsführer Kay-Michael Dankl. Er sagt, die regierende ÖVP brauche „ein starkes Gegenüber“. Hauptthema von KPÖ plus sind Verbesserungen beim Wohnen in dem Bundesland mit hohen Mietpreisen.“ Dem Artikel beigefügt ist ein Bild von Kai-Michael Dankl mit einem der Plakate der KP, auf der zu lesen ist: „Wohnen darf nicht arm machen!“.

Weder in Österreich noch in Deutschland ist den regierenden Parteien vorzuwerfen, dass sie nicht versuchen würden, das Thema „Wohnen“ politisch zu besetzen. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP aus dem Jahr 2021 sah vor, Jahr für Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen, um durch Schaffung von Angeboten die davongaloppierenden Mietpreise zu dämpfen. Das ist inzwischen Asche – wie so vieles aus den ersten Tagen dieser nun vor allem mit Haubitzen befassten Koalition. Die FAZ titelte auf ihrer Wirtschaftsseite am Freitag vor der Salzburger Klatsche: „Von den 400.000 spricht keiner mehr“. Im Jahr 2022 wurden nur rund 280.000 Wohnungen neu fertiggestellt – Tendenz fallend. Das Blatt rechnete vor, dass im „frei finanzierten Wohnungsbau“ die Kosten „auf Miethöhen von 17,50 bis 20 Euro kalt je Quadratmeter“ hinausliefen. Welche Familie soll sich von den real schrumpfenden Löhnen für sich und ihre beiden Kinder auch nur eine 80qm-Wohnung von 1600.- Euro kalt leisten können, ohne dass „Wohnen arm macht“, wie nicht nur in Österreich gilt?

So werden immer mehr Menschen mit niedrigen Löhnen oder Lohnersatzleistungen aus den besseren Wohnlagen in immer schlechtere abgedrängt und die letzten beißen die Hunde. Denn wer in diesem System, das mehr und mehr Wohnungselend produziert, die schlechtesten Karten hat, wird weggeräumt wie ein Stück Dreck. Wie das konkret vonstatten geht, schilderte in einem Interview für die Tageszeitung „junge Welt“ am 21. April Stephanie Rose, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion „Die Linke“ in der Hamburgischen Bürgerschaft: „Uns erreichten zuletzt immer mehr Berichte von Straßensozialarbeiterinnen und -arbeitern sowie Initiativen, dass ihre Klienten nicht mehr erreichbar sind, weil sie aus der Innenstadt verdrängt wurden.“ Obdachlose würden systematisch aus dem Stadtbild verdrängt und müssten sich andere Orte suchen, an denen sie ihr Leben fristen – „oft nicht mehr in der Innenstadt, sondern weiter draußen, zum Beispiel in Harburg, Bergedorf.“

Vieles deutet darauf hin, dass die Wohnungsfrage so neben der Kriegsfrage und der Frage des kontinuierlichen Reallohnverlustes in den kapitalistischen Metropolen mehr und mehr auf die Tagesordnung politischer Auseinandersetzung rücken wird. 

In der Geschichte des Kapitalismus war dies zum ersten Mal der Fall in den siebziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts – einer „Periode der Herausbildung, des Wachstums und des Reifens sozialistischer Massenparteien mit klassenmäßiger, proletarischer Zusammensetzung“[1]. Die drängende Wohnungsnot proletarischer Massen vor allem in den großen Städten führte zu heftigen Debatten, wie ihr beizukommen sei. Damals wie heute gab es starke Stimmen auch innerhalb sich als links verstehender Bewegungen, die es für möglich hielten, die „Wohnungsfrage“ bei Aufrechterhaltung kapitalistischer Strukturen nicht nur zu thematisieren, sondern auch zu lösen – also für alle ohne Infragestellung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse angemessenen und günstigen Wohnraum zu schaffen. 

In dieser Gemengelage verfasste Friedrich Engels zwischen Mai 1872 und Januar 1873 eine Artikelserie mit der Überschrift „Zur Wohnungsfrage“, die vom Juni 1872 bis zum Februar 1873 in der sozialdemokratischen Parteizeitung „Volksstaat“ in Leipzig erschien und breite Resonanz hervorrief.

Die Quintessenz dieser umfangreichen Analyse[2] nimmt Engels gleich zu Beginn vorweg: „Die sogenannte Wohnungsnot, die heutzutage in der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, dass die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen frühern unterdrückten Klassen, eigentümlich sind; im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. – Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“[3]

Engels Schrift über die Wohnungsfrage gehört zu den wichtigsten Standardwerken der Klassiker des Marxismus. Es ist vor allem eine scharfe (und insofern auch erfrischend zu lesende) Polemik gegen „allerhand sozialer Quaksalberei“, wie er im 1887 erschienenen Vorwort zur zweiten Auflage der später mehrmals als Broschüre nachgedruckten Arbeit formuliert[4] . Vor allem wendet er sich scharf gegen die oberflächliche, nur scheinbar linke Gleichsetzung von Mietern mit Lohnarbeitern und Hausbesitzern mit Kapitalisten. Die Gleichsetzung, führt er aus, „ist total falsch“[5] – weil eben im Mietverhältnis anders als in der Produktion kein Wert erzeugt wird: „Um wieviel auch der Vermieter den Mieter übervorteilen mag, es ist immer nur ein Übertragen bereits vorhandenen, vorher erzeugten Werts, und die Gesamtsumme der von Mieter und Vermieter zusammen besessenen Werte bleibt nach wie vor dieselbe.“[6]

Engels nutzt die Auseinandersetzungen um die Wohnungsfrage, um immer wieder auf das einige Jahre vorher erschienene „Kapital“ von Karl Marx hinzuweisen, ohne das ein Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge des – wie wir heute formulieren würden – Wohnungsmarktes nicht zu verstehen seien. 

Die Hauptstoßrichtung der Artikelserie richtet sich gegen diejenigen, die den Pelz waschen wollen, ohne sich nass zu machen, die also glauben, die Wohnungsfrage lösen zu können, ohne die Besitzverhältnisse grundlegend zu ändern: „Es ist das Wesen des bürgerlichen Sozialismus, die Grundlage aller Übel der heutigen Gesellschaft aufrechterhalten und gleichzeitig diese Übel abhelfen zu wollen. Die bürgerlichen Sozialisten wollen, wie schon das ‚Kommunistische Manifest‘ sagt, ‚den sozialen Missständen abhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern‘, sie wollen ‚die Bourgeoisie ohne das Proletariat‘“.[7]

So richtig es ist, Forderungen zu stellen, so falsch ist es, auf den bürgerlichen Staat zu vertrauen: „Dass der heutige Staat die Wohnungsplage weder abhelfen kann noch will, ist sonnenklar. Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klasse, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten … nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. Wenn also die einzelnen Kapitalisten die Wohnungsnot zwar beklagen, aber kaum zu bewegen sind, ihre erschreckendsten Konsequenzen oberflächlich zu vertuschen, so wird der Gesamtkapitalist, der Staat, auch nicht viel mehr tun. Er wird höchstens dafür sorgen, dass der einmal üblich gewordene Grad oberflächlicher Vertuschung überall gleichmäßig durchgeführt wird.“[8]

Auch das oben aus Hamburg angeführte Beispiel des Wegkehrens des Wohnungsproblems indem die Menschen, die allein durch ihr Leben auf der Straße das Wohnungselend im Kapitalismus herausschreien und folglich weggekehrt werden wie Dreck unter den Teppich ist keine neue Erscheinung. Engels nennt die Methode „Haussmann“: „Ich verstehe hier unter ‚Haussmann‘ nicht bloß die spezifisch-bonapartistische Manier des Pariser Haussmann[9], lange, gerade und breite Straßen mitten durch die enggebauten Arbeiterviertel zu brechen und sie mit großen Luxusgebäuden an beiden Seiten einzufassen… Ich verstehe unter ‚Haussmann‘ die allgemein gewordene Praxis des Brescheschlagens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer großen Städte… Das Resultat ist überall dasselbe…: die skandalösesten Gassen und Gäßchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie von wegen dieses ungeheuren Erfolges, aber – sie entstehn anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.“[10] Und nach einer detaillierten Beschreibung dieser Praxis, die Wohnungsprobleme der Elendsten nicht zu lösen, sondern nur aus dem Auge zu verdammen, kommt er zu dem bis heute gültigen Schluss: „Die Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher, worin die kapitalistische Produktionsweise unsre Arbeiter Nacht für Nacht einsperrt, sie werden nicht beseitigt, sie werden nur – verlegt!“.[11]

Wie aber nun, fragt Engels, sei die Wohnungsfrage zu lösen? „In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftlichen Frage gelöst wird: durch die allmähliche ökonomische Angleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopistischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehen. Soviel aber ist sicher, dass schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‚Wohnungsnot‘ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierung durch den heutigen Staat.“[12]

Diese Maßnahmen wurden in der Tat sowohl nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 wie auch nach der Errichtung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, der DDR oder der Volksrepublik China nach 1949 ergriffen. Sie wurden angesichts der damals spezifischen „jedesmaligen Umstände“ zügig ergänzt durch umfassende Wohnungsbauprogramme, die einen scharfen Kontrast bilden zur heutigen Unfähigkeit und Unwilligkeit, selbst das bescheidene Ziel von 400.000 Neubauten im Jahr für Deutschland auch nur annährend zu erreichen. Im Ergebnis galt beispielsweise in der DDR in den 1970er Jahren die Wohnungsfrage als gelöst – ein Schild mit der Aufschrift „Wohnen darf nicht arm machen!“ musste dort niemand mehr hochhalten.

Manfred Sohn


 
[1] Wladimir Iljitsch Lenin, August Bebel, in: Lenin Werke (LW), Berlin 1977, Band 19, S. 285f
[2] Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in: Marx Engels Werke, Band 18 (im folgenden MEW 18), Berlin 1973 – die gesamte Artikelserie umfasst die Seiten 209 bis 287
[3] MEW 18, a.a.O., S. 213f, Hervorhebungen wie auch in allen hier angeführten Zitaten durch Friedrich Engels
[4] MEW 18, a.a.O., S. 648
[5] ebenda, S. 215
[6] ebenda, S. 216
[7] ebenda, S. 235
[8] ebenda, S. 257f
[9] Gemeint ist Georges-Eugène Haussmann (1809 – 1891), französischer Politiker, Bonapartist, verantwortlich für die Umgestaltung von Paris – vgl. MEW 18, S. 820
[10] MEW 18, a.a.O., S. 260f
[11] ebenda, S. 263
[12] ebenda, S. 226f