Die Entstehung und Bedeutung der „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“
Der April 1858 – also in diesem Monat vor 165 Jahren – ist für Karl Marx in London kein guter Monat. Nachdem ihm die Niederlage der 48er-Revolution ins Exil nach London verschlagen hatte, fristet er dort ein karges Dasein, finanziell unterstützt vor allem durch seinen in Manchester in der Textilfabrik seines Vaters arbeitenden Freund Friedrich Engels. Seit 1850 betreibt Marx, Stunden, Tage und Nächte in der „British Library“ verbringend, intensive ökonomische Studien. Als 1857 erneut eine tiefe ökonomische Krise ausbricht, in deren Folge sowohl Engels als auch er ähnlich wie zehn Jahre zuvor eine elementare politische Erhebung erwarten, intensiviert der damals knapp 40jährige Familienvater diese angestrengte Arbeit. Hauptsächlich in den Nachtstunden schrieb er von Oktober 1857 bis März 1858 das nieder, das zwar in Teilen, aber in seiner Gänze erst lange nach seinem Tod – in den Jahren 1939 bis 1941 - das Licht der Welt erblickte: Die „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“. Sie bilden das Fundament des später erschienen weltberühmt gewordenen Buches „Das Kapital“.
Am 2. April schreibt er einen langen Brief an Engels, in dem er ihm gegenüber ein vermeintliches Zwischenresümee seiner Arbeit zieht. Dort klingt bereits die Befürchtung an, dass er das große Werk nicht zu Ende bringen kann – teils aus gesundheitlichen Gründen, teils weil die erwartete Erhebung im Gefolge der Krise sich nicht abzeichnet. Dieser handschriftlich überlieferte Brief beginnt mit einigen aktuellen Erörterungen zu Artikeln des „Guardian“ und anderer englischen Zeitungen, um dann überzugehen zur eigenen Gesundheitslage und der Arbeit der letzten Monate: „Ich bin so unwohl von der Gallengeschichte, daß ich diese Woche weder denken noch lesen, noch schreiben, noch irgendetwas machen kann, save (ausgenommen – M.S.) die articles für die „Tribüne“ (eine US-amerikanische Zeitung – M.S.). … Das Unwohlsein ist aber fatal, da ich nicht anfangen kann, die Sache für Dunker auszuarbeiten, bis ich wohl und wieder vigour und grasp in den Fingern fühle (etwa: Kraft und Fähigkeit, zuzupacken – M.S.).“[1]
Nach diesem kurzen Hinweis skizziert er das große Veröffentlichungsprojekt, an dem er seit dem Beginn der 1857er Krise sitzt: „Folgendes ist short outline of the first part. Die ganze Scheiße soll zerfallen in 6 Bücher: 1. Vom Kapital. 2. Grundeigentum. 3. Lohnarbeit. 4. Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt.“[2] Es folgt eine Auffächerung dieser Kapitel, bis er – nach vielen weiteren Seiten, die heute fast sechs Druckseiten füllen – bei Beginn der Detaildarlegung des Kapitel 3 mit folgenden Worten abbricht: „Das ist eigentlich das Wichtige dieses ersten Hefts, worüber ich am meisten Deine Ansicht haben muß. Heute aber kann ich nicht mehr fortschreiben. Der Gallendreck macht mir schwer, die Feder zu führen, und das Herabsenken des Kopfes auf das Papier macht mich schwindelig. Aber for next time, Salut, Dein K.M.“[3] Danach gibt es zwar Briefe von Manchester nach London, aber fast einen Monat keine mehr von London nach Manchester. Die Begründung erfolgt am Ende des Monats, am 29. April: „Mein langes Stillschweigen kann ich Dir mit einem Wort erklären – Unfähigkeit zu schreiben. … Ich bin … noch nicht fähig zu arbeiten. Wenn ich mich ein paar Stunden hinsetze und schreibe, habe ich ein paar Tage ganz brach zu liegen. Ich erwarte bei allen Teufeln, daß dieser Zustand mit nächster Woche ein Ende nimmt. Er konnte nie ungelegener kommen als jetzt. Ich habe offenbar den Winter das Nachtarbeiten übertrieben.“[4]
Das Manuskript erscheint wie erwähnt zu Marx‘ Lebzeiten nicht mehr. Wie wir heute wissen, war die Arbeit dennoch alles andere als umsonst. Die „Grundrisse“ enthalten eine Fülle von hochaktuellen Gedanken. Der eine Grund dieser Aktualität ist derselbe, der Marx zu diesen Monaten der Überarbeitung getrieben hat: Für ihn schien sich die Möglichkeit abzuzeichnen, daß die Krise 1857 zu politischen Unruhen führen würden, die in ihrer Wirkung noch über die Revolution von 1848 hinaustreiben und die Tür für eine gänzlich neue gesellschaftliche Formation aufstoßen könnten. Daher enthalten die „Grundrisse“ Hinweise auf den Umfang und die Qualität dieses möglichen Zusammenbruchs des Alten. Ein anderer Grund für die heutige Aktualität der „Grundrisse“ liegt darin, dass die überlieferten Texte – anders als die Gliederungsidee, die Marx Anfang April Engels mitteilt – mit dem „Kapitel vom Geld“[5] beginnen. Die dortigen Ausführungen sind das für das Verständnis der aktuellen Turbulenzen im Bankenbereich der kapitalistischen Länder unentbehrlich. Dort ist der Charakter des Geldes und seiner Bewegungsform umfassend dargelegt. Marx‘ Analysen des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses münden in der Einsicht in die Endlichkeit dieses Systems, denn der Arbeiter „tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.“[6]
In ihrer Borniertheit haben die Heerscharen bürgerlicher Wissenschaftler, die dem Kapitalismus dienen, die Gedankenfülle, die allein in diesen wenigen, irgendwann nachts in London niedergeschriebenen Zeilen enthalten sind, nie begriffen. In ihnen kristallisiert sich alles, was das Wesen unserer Epoche ausmacht: Der jetzige Reichtum beruht auf Raub. Die wenigen berauben die vielen. Das ist eine miserable Grundlage für die Entwicklung wirklichen Reichtums. Der aber zeichnet sich am Horizont bereits ab. In dieser künftigen Zeit schuftet der Mensch nicht mehr selbst, sondern lässt Maschinen für sich arbeiten. Er tritt neben diesen Produktionsprozess, in deren Mittelpunkt er über Jahrhunderte stand. Die alte, auf den Austausch von Waren beruhende Produktion muss und wird zusammenbrechen. Auf neuer Grundlage, in der der einzelne nicht mehr als isoliertes, ausgebeutetes, sondern gesellschaftliches Individuum Herr (und Frau) seines eigenen Schicksals wird, entsteht der wirkliche Reichtum des menschlichen Geschlechts. Die Zeit der Notdürftigkeit und der Gegensätzlichkeiten, die uns heute plagen, endet und macht Platz für die neue Zeit.
Nun beinhaltet der oben skizzierte Produktionsprozess dieser „Grundrisse“ selbst auch eine Warnung: Sie sind niedergeschrieben in der Erwartung eines kräftigen revolutionären Schubs, der diesen Zusammenbruch, den Marx hier gedanklich vorwegnimmt, beschleunigen und Wirklichkeit werden lasse. Die „Nachtarbeit“ und die gesundheitlichen Folgen, von der Marx klagend berichtet, schienen ihm (und wohl auch seiner Frau Jenny) gerechtfertigt angesichts dessen, was politisch auf dem Spiel zu stehen schien. Die Stimmung dieser revolutionären Community, wie wir heute vielleicht sagen würden, war geprägt von der Barrikaden errichtenden 48er Revolution, die aber nicht im Sieg, sondern in der Vertreibung vieler ins Exil endete. Die Eile war übertrieben. Erst über 10 Jahre später – mit der Pariser Kommune 1871 – kam es zum nächsten revolutionären Schub und erst nach dem Tod beider Denker mit der russischen Oktoberrevolution 1917 zu entscheidenden, bis heute nachwirkenden Bresche in der Phalanx der auf Raub beruhenden Gesellschaftsformation des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Das in den Grundrissen für die Zukunft prophezeite „Verständnis der Natur“ quält sich in unseren Tagen in ähnlicher ächzender Weise ans Licht wie das Finden der Entwicklung eines Reichtums, der nicht auf Raub beruht. Ob die Frage der Abwendung der drohenden Klimakatastrophe und des Massensterbens von Tier- und Pflanzenarten, die Frage der Verteilung des Reichtums in einer Gesellschaft oder die Frage von Krieg und Frieden – alles ist zwar nicht von selbst, aber erst dann dauerhaft lösbar, wenn „die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen“gebrochen ist.
Das ist der Kern der Erkenntnis, der die ganze Plackerei und diesen ganzen jämmerlichen Monat April 1858 Jahren wert war.
Manfred Sohn
[1] Brief Marx an Engels in Manchester vom 2. April 1858, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 29, Berlin 1963, S. 312 – der hier erwähnte „Dunker“ ist Marx‘ damaliger Verleger
[2] ebenda
[3] Ebenda, S. 318
[4] MEW 29, a.a.O., S. 323
[5] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1974, S. 33ff
[6] Grundrisse, a.a.O., S. 593