Logo Marx-engels-StiftungMarx-Engels-Stiftung e.V. · Gathe 55 · 42107 Wuppertal · Tel: +49 202 456504 · marx-engels-stiftung@t-online.de
Zur Aktualität von Engels Streitschrift „Zur Wohnungsfrage“

Am 18. September teilte das Statistische Bundesamt mit, daß sich die Talfahrt bei den Baugenehmigungen weiter fortgesetzt habe. Im Juli seien nur noch 17.000 Baugenehmigungen für neue Wohnungen erteilt worden und damit 19.2. Prozent weniger als im Vorjahresmonat. Das war der 27. Rückgang von Baugenehmigungen in Folge. Trockener Kommentar des Hauptgeschäftsführers der Deutschen Bauindustrie, Tim Oliver Müller: „Wir haben mittlerweile wieder das Genehmigungsniveau von Februar 2012 erreicht.“ Am stärksten schlagen bei den Rückgängen der Bautätigkeit die bei Wohnungen in Mehrfamilienhäusern zu Buche – also die für Mietwohnungen. Die im Wahlkampf vor allem von der SPD vollmundig angekündigte Bauoffensive zur Senkung der Mieten in Deutschland, die sich dann in der Zahl von 400.000 Wohnungen pro Jahr im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung niedergeschlagen hat, ist kläglich gescheitert.

Darüber verzweifeln zwar die Wohnungssuchenden, aber nicht alle im Lande. Am 21. September frohlockte auf Seite 1 in ihrem Finanzteil die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ): „Das Ende des Hauspreisverfalls ist amtlich“. Einen Tag vorher nämlich hatte das Bundesamt den amtlichen Hauspreisindex für Wohnimmobilien bekanntgegeben und der war im zweiten Quartal 2024 um 1,3 Prozent gestiegen. Die am 18. September und die am 21. September verkündeten Zahlen hängen miteinander zusammen. Die Drosselung der Bautätigkeit führt zur Verknappung der Ware Wohnung, wirkt als ihr Preistreiber und spült das Geld in die Taschen derer, die eine Immobilie zur Verwertung zur Verfügung haben. 

Michael Voigtländer, Immobilienfachmann des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln sieht in den Zahlen eine Trendwende und spricht in dem erwähnten FAZ-Artikel von einer „deutlich stärkeren Mietdynamik“, die sich „angesichts fallender Baufertigstellungen noch verstärken wird“.  

Diejenigen, die ihr sauer verdientes Geld für das Anmieten eines Dachs über dem Kopf für sich und ihre Familien verwenden müssen, sollen sich also auf eine Beschleunigung des Trends zu teuren Wohnungen einstellen. Das betrifft vor allem die sieben größten deutschen Städte, in denen die Immobilienpreise um durchschnittlich 1,6 Prozent gestiegen sind, gefolgt von den kreisfreien Großstädten mit 1,4 Prozent. Wer günstigen Wohnraum sucht, muss auf’s Land: In dünn besiedelten Gegenden, analysiert das Bundesamt für Statistik, hätte es einen Preisrückgang von 3 Prozent gegeben. Dort gibt es allerdings auch keine Arbeit und die gesparten Gelder gehen für den Pendlersprit wieder drauf, der quasi zu den Wohnkosten gehört, weil es dort in der Regel keinen zuverlässig funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr gibt.

Wer begreifen will, was dort ökonomisch vor sich geht, ist gut beraten, sich die später als Broschüre herausgegebenen Arbeit von Friedrich Engels „Zur Wohnungsfrage“ anzusehen, die er vom Mai 1872 bis zum Januar 1873 verfasst hat und die zuerst in Form von 6 Artikeln im „Volksstaat“ erschienen war[1]. Vieles von dem dort Entwickelten ist der spezifischen historischen Situation geschuldet. Engels weist darauf selbst in dem 1887 geschriebenen Vorwort zur zweiten Auflage der Broschüre hin: „Damals ergoss sich gerade der französische Milliardenregen[2] über Deutschland..."[3]. Diese Gelder fachten den vorher bereits begonnenen Prozess der (vor allem England gegenüber) aufholenden Industrialisierung Deutschlands heftig an und trugen indirekt zur Verschärfung des Wohnungselends bei: „Einerseits werden Massen ländlicher Arbeiter plötzlich in die großen Städte gezogen, die sich zu industriellen Mittelpunkten entwickeln; andrerseits entspricht die Bauanlage dieser älteren Städte nicht mehr den Bedingungen der neuen Großindustrie und des ihr entsprechenden Verkehrs; Straßen werden erweitert und neu durchgebrochen, Eisenbahnen mitten durchgeführt. In demselben Augenblick, wo Arbeiter haufenweis zuströmen, werden die Arbeiterwohnungen massenweis eingerissen. Daher die plötzliche Wohnungsnot der Arbeiter und des auf Arbeiterkundschaft angewiesenen Kleinhandels und Kleingewerbs.“

Obwohl einige hierzulande ja von Milliardenreparationen aus Russland tagträumen, mit denen dann die Ukraine zum florierenden Markt für den lahmenden deutschen Export wird, zeichnet sich eine ähnliche spezifische Konstellation für Deutschland in den nächsten Jahren nicht ab. Die Wohnungsnot hier erfährt zurzeit eine historisch spezifische Ausprägung durch zwei andere Faktoren: Der eine ist die politische gewollte Drosselung der Bautätigkeit von den erwähnten 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr auf jetzt nur noch gut 200.000 pro Jahr. Statt in den Bau neuer Sozialwohnungen fließen durch Beschluss der Bundestagsmehrheit Jahr für Jahr Milliarden in die Ausstattung der Ukraine für den dort geführten Krieg gegen Russland. Baukräne stehen folglich nicht in neuen Wohngebieten, sondern an den neuen Fabriken, die Rheinmetall und andere mit Steuergeldern errichten können. Der Krieg hat zweitens zu einer millionenfachen Zuwanderung von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten nicht nur (wie oft unterschlagen wird) nach Russland, sondern auch nach Deutschland geführt – und trifft auf das verknappte und sich weiter verknappende Angebot an Wohnraum. Der Krieg gegen Russland verschärft die Wohnungsnot so auf zweifache Weise.

Beim Studium der Engels-Schrift zur Wohnungsfrage ist ein zweites zu beachten. Sie ist entstanden als Polemik gegen damals innerhalb der Arbeiterschaft grassierenden Vorstellungen von Pierre-Joseph Proudhon zur Lösung der damaligen Wohnungsfrage. Er wie andere Vertreter des „Bourgeoisie- und kleinbürgerlichen Sozialismus“ sowie die „Kathedersozialisten und Menschenfreunde aller Art“ sahen die Lösung der Wohnungsfrage im Kern darin, „die Arbeiter in Eigentümer ihrer Wohnung zu verwandeln“[4]. Das aber, weist Engels nach, ist ökonomisch wie politisch perspektivlos – und damit sind wir bei den Aspekten dieser Schrift, die bei aller historischen Spezifik und der polemischen Auseinandersetzung mit dem heute zum Glück weitgehend vergessenen Proudhon von hoher Aktualität und grundsätzlicher Bedeutung sind. 

Die später erschiene Broschüre gliedert die im „Volksstaat“ erschienenen Artikel in drei Abschnitte: Die Polemik „Wie Proudhon die Wohnungsfrage löst“, den zweiten zur Frage „Wie die Bourgeoisie die Wohnungsfrage löst“ und einen „Nachtrag“, der auf Entgegnungen der von Engels Angegriffenen eingeht. Der Charakter der Wohnungsnot wird gleich zu Beginn als ein Problem beschrieben, das nicht mit dem Kapitalismus in die Welt gekommen ist. Die Arbeiterklasse lebe zwar in „schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen“, aber: „Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen frühern unterdrückten Klassen, eigentümlich ist; im Gegenteil, die hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. – Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“[5] Den weiteren Prozess fasst Engels nach ausführlichen Beschreibungen seines Verlaufs dahingehend zusammen, daß die „Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt, daß Arbeiter- und überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft gar nicht zu haben sind; denn unter diesen Verhältnissen wird die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise Arbeiterwohnungen bauen.“[6]

Vielleicht politisch noch prägnanter und somit aktueller als der Hinweis auf dieses Verdrängen von Lohnabhängigen in die schäbigeren Stadtteile ist der, „daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‚Wohnungsnot‘ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“[7] 

Es gehört wenig prophetische Gabe zu der Prognose, dass mit – s.o. – „stärkerer Mietdynamik“ die Appelle von Politik, Kirche und anderen „Menschenfreunden aller Art“ zum Maßhalten zunehmen werden. Auch das hat eine innere Logik, die Engels im zweiten Abschnitt seiner Broschüre so zusammenfasst: „Herr Sax darf als guter Bourgeois nicht wissen, daß (die Wohnungsnot) ein notwendiges Erzeugnis der bürgerlichen Gesellschaftsform ist; daß eine Gesellschaft nicht ohne Wohnungsnot bestehen kann, in der die große arbeitende Masse auf Arbeitslohn … angewiesen ist, … in der Arbeiter massenhaft in den großen Städten zusammengedrängt werden, und zwar rascher, als unter den bestehenden Verhältnissen Wohnungen für sie entstehn, in der also für die infamsten Schweineställe sich immer Mieter finden müssen; in der endlich der Hausbesitzer, in seiner Eigenschaft als Kapitalis, nicht nur das Recht, sondern, vermöge der Konkurrenz, auch gewissermaßen die Pflicht hat, aus seinem Hauseigentum rücksichtlos die höchsten Mietpreise herauszuschlagen. In einer solchen Gesellschaft ist die Wohnungsnot kein Zufall, sie ist eine notwendige Institution, sie kann mitsamt ihren Rückwirkungen auf die Gesundheit usw. nur beseitigt werden, wenn die ganze Gesellschaftsordnung, der sie entspringt, von Grund aus umgewälzt wird. … Wer die kapitalistische Produktionsweise, die ‚ehernen Gesetze‘ der heutigen bürgerlichen Gesellschaft, für unantastbar erklärt, und doch ihre missliebigen, aber notwendigen Folgen abschaffen will, dem bleibt nichts übrig, als den Kapitalisten Moralpredigten zu halten, Moralpredigten, deren Rühreffekt sofort wieder durch das Privatinteresse und nötigenfalls durch die Konkurrenz in Dunst aufgelöst wird.“[8]

Manfred Sohn


 
[1] Friedrich Engels „Zur Wohnungsfrage“, Marx Engels Werke (MEW) Band 18, Berlin 1973, S. 209-287
[2] „Laut Frankfurter Friedensvertrag von 1871 musste Frankreich eine Kontribution in Höhe von 5 Milliarden Franc an Deutschland zahlen.“ – Anmerkung der Herausgeber, ebenda S. 737
[3] Ebenda, S. 647, ebenso nachfolgendes Zitat
[4] ebenda, S. 650
[5] MEW 18, a.a.O., S. 213, Hervorhebungen wie auch in den anderen Zitaten im Original
[6] ebenda, S. 215
[7] ebenda, S. 227
[8] ebenda, S. 236f