Anmerkung zu geschichtlichen Wiederholungen, Farcen und Pervertierungen
Zu den bekanntesten Zitaten von Karl Marx gehören die einführenden Sätze seiner Arbeit „Der 18te Brumaire des Lous Bonaparte“[1]. Dieses Werk – in gewisser Weise eine Fortsetzung der „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“[2] – beinhaltet eine glänzende Analyse der Hauptetappen der 1848er Revolution in Frankreich und die Aufdeckung der Triebkräfte des konterrevolutionären Staatsstreichs von Louis Bonaparte. Es ist darüber hinaus unentbehrlich für jeden, der von der Oberfläche der politischen Verlautbarungen von Parteien eindringen will in das Wesen politischer Prozesse bürgerlicher Gesellschaften.
Seine Analyse beginnt Marx mit folgenden Sätzen: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848-1851 für die Montagne von 1793-1795, der Neffe für den Onkel. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire herausgegeben wird.“[3]
Nun wäre es, um einen der Lieblingsbegriffe von Marx zu gebrauchen, abgeschmackt, die heutigen Ereignisse grob über die Leisten seiner Analyse zu schlagen und die sich vor unseren Augen entfaltende deutsche, aber auch europäische, japanische und US-amerikanische Rechtsentwicklung lediglich als eine Farce der deutschen Tragödie von 1933 bis 1945 zu begreifen.
Um das, was sich zurzeit auf diesem Globus und in Deutschland ereignet, zu verstehen, müssen wir in der Traditionslinie Marx einen weiteren Begriff zu Hilfe nehmen – den der Pervertierung. Er ist, meines Wissens erstmals in die politischen Debatten eingeführt von Wolf-Dieter Gudopp, hilfreich zum Verständnis dessen, was um uns herum geschieht.
Das Wesen der Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Prozesse menschlicher Gesellschaften hat Karl Marx in seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“ in deren Vorwort entwickelt: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“[4]
Die Umwälzungen von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus und vom Feudalismus zum Kapitalismus waren quälend lange, Generationen übergreifende Prozesse, die von Verwirrungen und kühner Gedankenklarheit, von Verzweiflung und Hoffnung, von Verzagtheit und Mut, von Feigheit und Aufopferungsfähigkeit, von Kriegen und Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, von Dumpfsinn und der Explosion künstlerischer Kreativität gekennzeichnet waren.
In einer solchen Epoche leben wir. Und mehr noch: Unsere Zeit unterscheidet sich von früheren „Umwälzungen des ganzen ungeheuren Überbaus“ durch drei Besonderheiten gegenüber allen anderen Übergängen, von denen die erste bereits Karl Marx und Friedrich Engels klar war.
Was am Ende dieser Umwälzung, deren Zeugen und Mitgestalter wir sind, steht, ist erstmals nicht die Ablösung einer ausbeutenden Klasse durch eine andere. Es ist das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen selbst. Es ist – mindestens seit Beginn der Ausbeutung am Ende der Urgesellschaft, die zu arm war, um überhaupt ein Mehrprodukt zu erzeugen, das sich einzelne Menschen auf Kosten anderer aneignen konnten – die größte Umwälzung der bisherigen Menschheitsgeschichte. Schon deshalb ist sie langwierig und nur gegen größte Widerstände der ausbeutenden Klassen durchzusetzen.
Zweitens aber – und das hatten die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht auf dem Schirm – vollzieht sich diese Umwälzung durch den Verlauf der Entwicklung der letzten 150 Jahre nicht zuerst in den ökonomisch zu ihren Zeiten fortgeschrittensten Ländern Westeuropas, allen voran Englands, denen in den Vorstellungen von Marx und Engels dann die anderen Völker der Welt nach einigen Jahren oder Jahrzehnten folgen würden. Weil es den Völkern der damals ökonomisch dynamischsten und militärisch allen anderen überlegenen Staaten nicht gelungen ist, die Umwälzung von der kapitalistischen zur sozialistischen Phase der menschlichen Entwicklung zu erkämpfen, hat sich im 20. Jahrhundert bis heute die ökonomische Vereinheitlichung der Welt nicht unter sozialistischer, sondern unter kapitalistischer und das heißt, wie von Wladimir Iljitsch Lenin analysiert, imperialistischer Vorherrschaft vollzogen. Sozialismus ist der Zustand eines von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreiten Globus gleichberechtigter Völker, die die frühere dumpfe Abschottung voneinander überwunden haben und sich in ihren unterschiedlichen Kulturen gegenseitig bereichern. Bei Beibehaltung der kapitalistischen Ausbeutung aber wird dieser Traum einer ganzen Menschheit zum Alptraum – Imperialismus ist so gesehen pervertierter Sozialismus.
Die von Marx prognostizierte große Umwälzung ist heute nur als globaler Prozess denkbar und möglich. Kein nationales Ereignis kann verstanden werden ohne Verständnis des Wesens dessen, was weltweit vor sich geht.
Imperialismus als pervertierter Sozialismus heißt drittens auch: Weil die von Marx als Grundlage aller gesellschaftlichen Prozesse entdeckte Entwicklung der Produktivkräfte nicht im Rahmen rationaler gesellschaftlicher Planung, sondern angetrieben durch Profitgier und den Drang nach Ausplünderung der Arbeitskraft ganzer unterdrückter Völker vonstatten ging, wuchern die Produktivkräfte immer mehr und immer bedrohlicher als Destruktivkräfte. Während im Kommunistischen Manifest vom Untergang der kämpfenden Klassen auf nationalem Niveau als einer düsteren Möglichkeit des Ausgangs der Kämpfe gesprochen wurde, droht uns heute angesichts der atomaren, biologischen und chemischen Waffen die Vernichtung der ganzen Menschheit.
Nie also war der Weg zur neuen, mit dem Sozialismus beginnenden Gesellschaftsformation von so gefährlichen Klippen gesäumt wie heute.
Die Dramatik der heutigen Situation übertrifft noch die, mit der unsere Vorfahren angesichts des heraufziehenden europäischen Faschismus und des aggressiven japanischen Militarismus in den 1930er und 1940er Jahren konfrontiert waren. Die „Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus“ ist wie in einem Brennglas nachzulesen in den Referaten des VII. Kongresses der Kommunistischen Internationale aus dem Jahre 1935[5]
Die Lektüre aller drei dortigen Referate ist auch deshalb zu empfehlen, weil es bei uns Linken immer wieder mal eine gewisse Tendenz zur Reduzierung politischer Zusammenhänge auf ihre ökonomischen Fundamente gibt. Der 7. Weltkongress vergaß zwar keine Sekunde diese ökonomischen Fundamente, stellt aber Anforderungen für unseren Kampf um die Köpfe, die weit darüber hinaus weisen: „Wo liegt die Quelle des Einflusses des Faschismus auf die Massen? Dem Faschismus gelingt es, die Massen zu gewinnen, weil er in demagogischer Weise an ihre brennendsten Nöte und Bedürfnisse appelliert. Der Faschismus entfacht nicht nur die in den Massen tief verwurzelten Vorurteile, sondern er spekuliert auch mit den besten Gefühlen der Massen, auf ihr Gerechtigkeitsgefühl und mitunter sogar auf ihre revolutionären Traditionen.“[6]
Wem ginge da nicht Björn Höcke durch den Kopf, der auf einer in der DDR produzierten Simpson durch Thüringen tourte und mit einem russischen Lada zum Wahllokal vorfuhr? Der Aufstieg der AfD erklärt sich auch dadurch, daß sie falsche Feinde haben: Der Überdruss an der Politik der Herrschenden, die Abstieg und Kriegsgefahr bedeutet, wächst. Die Lust auf Rebellion nimmt zu. Das ist gut. Aber durch die lange Praxis der Unterdrückung aller marxistischen Ansätze der Kritik der bestehenden Verhältnisse von KPD-Verbot über Berufsverboten bis zu den heutigen Repressionen wird der Geist der Rebellion rechtesten Kräften zugetrieben. Also gedeiht eine pervertierte Rebellion[7]. Es ist völlig widersinnig und daher zwecklos, mit denen, die den Niedergang Deutschlands zu verantworten haben, gemeinsam gegen diese pervertierte Rebellion zu demonstrieren. Was nottut, ist die Entfaltung der wirklichen Rebellion – also der gegen Kapital und Imperialismus.
Jede politische Generation in der Traditionslinie von Marx und Engels, Lenin und Luxemburg, Stalin und Mao hat prinzipienfest und kreativ zugleich neue Aufgaben zu lösen. Wir würden versagen, wenn wir versuchten, die heutigen Aufgaben durch eine reine Wiederholung der Antworten auf die gestrigen zu lösen. Die heutige Hauptgefahr resultiert aus dem Versuch der ökonomisch und politisch im G-7-Bunker zusammengedrängten, in die historische Defensive geratenen imperialistischen Mächte, einen militärischen Ausbruch aus diesem Bunker zu versuchen, um damit die aufstrebenden Mächte, die sich in den BRICS-Staaten zusammengefunden zu haben, militärisch und damit auch ökonomisch und politisch zu zertrümmern und auf diesen Trümmern ihre alte Vorherrschaft erneut aufzurichten.
Im Inneren dieses Bunkers folgt daraus die zwingende Notwendigkeit, die unter dem Niedergang leidenden Menschen in den alten kapitalistischen Hochburgen daran zu hindern, der Vernunft zu folgen. Die bestünde hierzulande in einem Kurs der Kooperation anstelle der Konfrontation mit den BRICS-Staaten, in der Wiederherstellung des Bezugs günstiger Energie aus Russland, in einer Eingliederung beispielsweise der Häfen an der deutschen Nordseeküste in die neue Seidenstraße, in einer wirtschaftlichen und Kooperation mit der kommunistisch regierten Volksrepublik China.
Weil das mit allen medialen und administrativen Mitteln verhindert wird, wird aus Vernunft Unvernunft, wird aus einem Aufschwung der Linken der der rechten Kräfte in ganz Westeuropa und hierzulande der AfD. Der berechtigte und bei einem anderen Kurs erfüllbare schlichte Wunsch etwa nach pünktlichen Zügen, sauberen Bahnhöfen und Schulen, nach sicheren Straßen und Parks, nach der Gewißheit, daß auch die eigenen Kinder noch in bescheidenem Wohlstand aufwachsen und alt werden können – das alles wird angesichts der Tabuisierung der sozialistischen Vernunft zum Nährboden des Aufschwung der demagogischen Unvernunft, zur Triebfeder der pervertierten Rebellion, die in ihrem logischen Endpunkt zu einem Kurs des kriegerischen Wahnsinns kulminieren kann.
Diesen Kurs zu brechen ist die Hauptaufgabe der heutigen „Partei Marx“, die übrigens in Deutschland gar nicht viel kleiner ist als zu den Zeiten, als Marx seinen „18. Brumaire“ schrieb.
Manfred Sohn
[1] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx Engels Werke (MEW) Band 8, Berlin 1975, S. 111 bis 207
[2] ebender, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 9-107
[3] Marx, Der achtzehnte Brumaire, a.a.O., S. 115. Der wie immer vorzügliche Anmerkungsapparat der MEW erklärt auch den zentralen Begriff des Titels der Arbeit: „Brumaire – Monat des französischen republikanischen Kalenders. Der 18. Brumaire des Jahres VIII war der 9. November 1799. An diesem Tag stürzte Napoleon das Direktorium durch einen Staatsstreich und machte sich unter dem Titel des Ersten Konsuls zum Diktator. Mit der „zweiten Auflage des 18. Brumaire“ meint Marx den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851.
[4] Karl Marx, Vorwort zu Kritik der Politischen Ökonomie, Marx Engels Werke (MEW), Band 13, Berlin 1975, S. 9
[5] Wilhelm Pieck, Georgi Dimitroff, Palmiro Togliatti, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin 1957
[6] ebenda, S. 90
[7] Ausführlicher Manfred Sohn, Falsche Feinde, Was tun gegen die AfD? Hamburg 2017