Robert Steigerwald zum 100. Geburtstag
Diesmal weichen wir ab von der Regel, dass ein Mitglied des amtierenden Vorstandes der Marx-Engels-Stiftung die monatliche Rubrik „Marx Engels aktuell“ füllt. Wir geben unserem im Juni 2016 verstorbenen Ehrenvorsitzenden Robert Steigerwald das Wort. Er wäre am 24. März 100 Jahre alt geworden. Über seinen Tod hinaus hat er wie nur wenige andere die strategischen Debatten der an Marx und Engels orientierten Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland mit geprägt.
Geben wir ihm also aus einem seiner letzten Bücher das Wort zu einem der auch heute noch drängendsten Probleme, nämlich zu dem der Mobilisierung der Arbeiterklasse für ihre eigenen Interessen. Das im folgenden Geschriebene stammt aus dem Buch „Wirkliche und konstruierte Marxismusprobleme“[1] Im Vorwort schreibt er zu sich selbst: „Ich bin seit 1945 in der Arbeiterbewegung organisiert, während der ersten beiden Jahre in der SPD, in der folgenden Zeit in der kommunistischen Partei unseres Landes. In all den Jahren, auch schon in meiner SPD-Zeit, habe ich mich darum bemüht, mir Marxismus anzueignen, und habe rasch begriffen, dass Marxismus eine Theorie ist, die Handlungsanleitungen für die Veränderung der Welt bereitstellt. Anders formuliert: Das Studium des Marxismus war für mich keine Volkshochschulangelegenheit. Einleuchtend ist auch, dass solches Verändern-Wollen dem Einzelkämpfer nicht gelingen kann, er sich also organisieren muss.“[2]
In dem Aufsatz „Ohne die Arbeiterklasse läuft nichts Wesentliches, aber mit ihr allein auch nicht“[3] führt Steigerwald nach einer auf das „Projekt Klassenanalyse“ gestützten Darlegung zur Entwicklung der Produktivkräfte und der Trennung des Bauern und anderer „unmittelbarer Arbeiter“ von ihren Produktionsmitteln im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus aus: „Damals ging die subjektive Produktivkraft, ging der Bauer seines Bodens verlustig. Wie sollte er leben können ohne zu arbeiten? Er musste sehen, wo und wie er irgendwie Arbeit finden konnte, musste notgedrungen das Dorf verlassen. Er wurde also von seinem Produktionsmittel ‚befreit‘, aber auch von seinen feudalen Fesseln, von der Leibeigenschaft. So konnte und musste er in die Städte oder an deren Rand ziehen, wo der sich herausbildende Kapitalismus seine ersten Betriebe, Manufakturen errichtete. Hier wurden subjektive und objektive Produktivkraft wieder ‚vereint‘, aber unter dem Kommando des Unternehmers, nicht unter dem des unmittelbar Arbeitenden, nicht unter dem Primat der subjektiven Produktivkraft, sondern angeheuert und ausgenutzt, ausgebeutet vom Besitzer der objektiven Produktivkraft, der Werkshallen, der Werkzeuge und Maschinen, der sich entwickelnden neuen, schließlich industriellen Produktionsmittel. Er mietet die subjektive Produktivkraft, die Arbeiter, und eignet sich an, was diese erzeugen. Und dieses belegt, dass – letztlich! – der ganze Bau der kapitalistischen Gesellschaft auf der Arbeit der im arbeitsteilig aufgegliederten direkten Produktionsprozess eingesetzten Arbeiterklasse beruht.
Damit kommen wir aber zu der Frage, wie das zu ändern sei! Einfach formuliert, aber verdammt schwer zu machen: Durch die Wiedervereinigung der objektiven mit der subjektiven Produktivkraft, durch die Lösung der Eigentumsfrage, die denn auch im ‚Kommunistischen Manifest‘ als die wichtigste der Fragen angesprochen wird, welche die Kommunisten zu lösen haben. Was meinen die Marxisten damit? Im Gegensatz zur oft unterstellten Behauptung, sie würden sowohl das kapitalistische als auch das kleine persönliche Eigentum beseitigen, heißt es im ‚Kommunistischen Manifest‘: Wir wollen das persönliche Eigentum, das der Wiedererzeugung des unmittelbaren Lebens dient, keineswegs abschaffen. Es geht nur um jenes Eigentum, das ‚Macht über fremde Arbeit geben könnte. Wir wollen nur den elenden Charakter dieser Aneignung aufheben, worin der Arbeiter nur lebt, um das Kapital zu vermehren, nur so weit lebt, wie es das Interesse der herrschenden Klasse erheischt.‘ (K. Marx / F. Engels; Manifest der Kommunistischen Partei...) Es geht um das Eigentum an Produktionsmitteln! Werkzeuge ‚an sich‘ sind noch keine Produktionsmittel, Hammer, Schraubenzieher, Säge usw., die ich zu Hause besitze, um gelegentliche Reparaturen in der Wohnung vornehmen zu können, sind keine...“[4]
Nachdem Steigerwald darauf aufbauend die weitere historische Entwicklung der Arbeiterklasse und der lange von der SPD geprägten Arbeiterbewegung in Deutschland dargelegt hat, wendet er sich den Diskussionen in der damals entstehenden Linkspartei zu: „Und wenn ich mir manche programmatischen und ideologischen Prozesse gegenwärtig in der Linkspartei anschaue, finde ich erstaunliche Parallelen zum Prozess des Verfaulens der alten deutschen Sozialdemokratie. … Ich höre: Die Mobilisierung der Arbeiterklasse sei eine verdammt schwierige Aufgabe! Und ob das eine verdammt schwierige Aufgabe ist!! Nur: Wenn diese Aufgabe nicht bewältigt wird, dann wird die Menschheit keine Zukunft mehr haben, dann wird sie an einer ökologischen Katastrophe oder in den mit Massenvernichtungswaffen geführten Kriegen des Raubtierkapitalismus zugrunde gehen. Aber die Arbeiterklasse allein wird die Dinge nicht schultern, und das braucht sie auch nicht. Bei der Lösung sehr entscheidender Fragen hätte sie ernste Bündnispartner! Denn Anfangen mit der Lösung unserer Aufgaben sollte man nicht, indem man sich gegen die anderen eben angeführten Bewegungen[5] stellt, sondern indem man mit ihnen zusammen die von ihnen anvisierten und wichtigen Ziele zu verwirklichen bemüht ist – und dabei versucht, ohne Krampf und nachvollziehbar den Zusammenhang mit der Eigentumsfrage herzustellen. Ganz in dem Sinne, in dem Horkheimer einst sagte: ‚Wer nicht vom Kapitalismus reden will, soll vom Faschismus schweigen.‘ Wer nicht von der Profitscheffelei reden will, soll nicht über Massenarbeitslosigkeit und Rentenklau, über ein Gesundheits- oder ein Bildungswesen reden, die beide als Quelle von Profit gebraucht, aber nicht als für das Volk lebensnotwendige gesellschaftliche Einrichtungen angesehen werden. Das Wissen über solche Zusammenhänge zu vermitteln, gehört – neben dem Kampf um die unmittelbaren Arbeits- und Lebensbedingungen – dazu, die Arbeiterklasse und ihr Umfeld zum Kampf für die Emanzipation (…) zu befähigen. … Nicht nur zu Systemfragen gibt es im Volk durchaus Stimmungen der Angst und Sorge vor Problemen der Ökologie, vor Rüstung und Krieg. Das reicht weit über die Arbeiterklasse hinaus, das wären echte Bündnispositionen für den gemeinsamen Kampf. Und man kann diese Ängste und die zu ihrer Beseitigung nötigen Aufgaben miteinander verbinden: Die Rüstung gefährdet nicht nur den Frieden, sie ist der größte Ressourcenverschwender überhaupt. Der Kampf gegen diese und für ökologische Lösungen – von damit verbundenen weiteren Möglichkeiten zunächst abgesehen – wäre von größter Bedeutung. Und gerade auf diesen Feldern ist jene Jugend aktiv, die wir so schmerzlich in den Organisationen der Arbeiterklasse vermissen. Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, dann muss der eben zum Propheten gehen. Wirkliche antikapitalistische Kräfte, sie müssen dort wirken. Es ist auch zu bedenken, dass sich hier Bündnisfragen von erheblicher Breite stellen: Welches Potential ist es, das das Getriebe der Banken, der Medien, der Wissenschaft, der Technik am Leben erhält? Das reicht weit über die Arbeiterklasse – wie man sich auch definieren mag – hinaus, und es wird keinen wirklichen Fortschritt in unserem Lande geben, wenn es nicht zu Bemühungen für den gemeinsamen Kampf kommt, die auf die Breite der Probleme und die Weite des in Fragen kommenden Potentials orientieren. Alles, was uns in Bewegung setzt, muss zuvor durch unser Bewusstsein hindurch, oder, wie es Hegel 1808 an seinen Freund Niethammer schrieb: ‚Ist erst das Bewusstseins revolutioniert, so kann die Wirklichkeit nicht länger stand halten.‘ Auf diesem Feld zu wirken, ist die ureigenste Aufgabe marxistischen Potentials, einer marxistischen Partei. Sie muss dazu befähigt werden, durch gründliche ideologische Bildung und Erziehung.“[6]
Nicht nur diese Ausführungen Steigerwalds sind von einer Aktualität, die für sich selbst spricht. Die Aufsatzsammlung, aus der hier zitiert worden ist, endet mit einem Artikel zum Thema „Sarrazin ist eine Sumpfblüte – Was aber ist der Sumpf?“ Dort nimmt er nach allen Regeln der Kunst das damals in hoher Auflage erschienene Buch von Thilo Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“ auseinander. Vor wenigen Wochen, am 14. Februar 2025 feierte die wichtigste im Umfeld der AfD erscheinende Zeitung, die „Junge Freiheit“ den 80. Geburtstag diese Herrn Sarrazin mit einem ganzseitigen Interview, in dem er für seine kommentierte Neuausgabe dieses Buches mit dem Untertitel „Die Bilanz nach 15 Jahren“ wirbt. Der ideologische Feind von 2010 ist, wie wir spätestens nach dem 23. Februar wissen, nicht schwächer, sondern stärker geworden. Diesen Trend zu brechen – auch dabei kann Robert Steigerwald weiterhin hilfreich sei.
Nicht also um einen Verstorbenen bis auf einen ordentlichen Kater folgenlos zu feiern, sondern, um seine Gedanken für heute nützlich zu machen, führt die Marx-Engels-Stiftung am letzten März-Wochenende eine Tagung in einem Naturfreundehaus in der hessischen Heimat Steigerwalds durch – näheres dazu unter „Veranstaltungen“ auf dieser Web-Site.
Manfred Sohn
[1]Robert Steigerwald, Wirkliche und konstruierte Marxismusprobleme, Vermischte Schriften, Berlin, Kulturmaschinen-Verlag, o.J., erschienen Ende 2010/Anfang 2011
[2]ebenda, S. 7
[3]Ebenda, S. 113 bis 134
[4]ebenda, S. 124f
[5]Steigerwald hatte vorher Umwelt-, Gewerkschafts- und Studentenbewegungen genannt
[6]ebenda, S. 130 bis 133