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Marx und Engels, Demokratie und Parlamentarismus

Anläßlich der peinlichen Selbstbeweihräucherungsfeiern zum 175. Jahrestag des Zusammentretens der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main hatte die Marx-Engels-Stiftung auf dieser Web-Site im Juni 2023 auf die zunehmende Skepsis gegenüber dem ganzen parlamentarischen Getöse hingewiesen, das sich in Deutschland ausbreitet. Diese zunehmende Distanz zum Parlamentarismus, so formulierte damals Arnold Schölzel an dieser Stelle, läge „an der Grundkonstellation des bürgerlichen Parlamentarismus, der die Klassenherrschaft des Kapitals vor allem verhüllen soll, niemals aber gefährden darf. Die Mehrheit der Bevölkerung ahnt das mindestens und ist nicht davon abzubringen, dass die Wahrheit der proklamierten Demokratie im kapitalistischen Alltag liegt.“

In den vergangenen 20 Monaten haben sich in einer ganzen Reihe imperialistischer Staaten Demokratie – also die Herrschaft des Volkswillens – und bürgerlicher Parlamentarismus weiter auseinanderentwickelt. Im Frontstaat des Wertewestens gegen die Russische Föderation sind die Wahlen, die den Umfragen nach die Regierungszeit von Volodymyr Selenski beenden könnten, vorsichtshalber ausgesetzt worden. In Rumänien ist die erste Runde der dortigen Präsidentschaftswahlen vom Verfassungsgericht unter Begründungen, deren Fadenscheinigkeit von Woche zu Woche sichtbarer wird, schlankweg für ungültig erklärt und die dem Volk zustehende Stichwahl, die am 6. Dezember 2024 hätte stattfinden müssen, kassiert worden. In den USA haben sich die nach Kontostand erfolgreichsten Ausbeuter des dortigen Imperialismus mit den reaktionärsten Traditionsbewahrern der alten Siedlerkolonialisten, die bis heute die Ausrottung der indianischen Urbevölkerung als zivilisatorischen Fortschritt zelebrieren, gemeinsame Sache gemacht und mit der Macht ihres Geldes und ihre Sucht nach weiteren Expansionen der angeblichen von Gott dazu bestimmten Macht Donald Trump wieder in das weiße Haus geschoben, damit er von dort – auch mit Hilfe des Pentagon mit seinen 3,5 Millionen Söldnern und den 800 Milliarden dort zur Verfügung stehenden Dollar – die Rechte und den Wohlstand sowohl des eigenen Volkes als auch anderer Völker unter den Stiefel nehmen kann.

In Westdeutschland ist es nach den Jahren des Faschismus gelungen, in Millionen von Köpfen die Begriffe Demokratie und Parlamentarismus fest zu verschrauben. Das war nicht immer so. Im Gefolge der deutschen Novemberrevolution 1918 wurden nach dem Sturz und der Vertreibung von Kaiser Wilhelm II. fast zeitgleich zwei Republiken in Berlin ausgerufen. Außer der später dann erst siegreichen, dann kläglich gescheiterten Weimarer Republik, die sich auf die Gepflogenheiten des bürgerlichen Parlamentarismus stützte, war das zweitens die von Karl Liebknecht am 9. November vom Berliner Stadtschloss ausgerufene „Freie Sozialistische Republik Deutschland“, die nach dem Vorbild der siegreichen russischen Oktoberrevolution als Räterepublik und damit einer direkteren Volksherrschaft organisiert werden sollte als das nach dem parlamentarischen System vorgesehen war. Im Feuer dieser Revolution entstand die „Kommunistische Partei Deutschland“ (KPD), in deren Traditionslinie heute die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) steht. Der Gründungskongreß der KPD vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 war unter anderem geprägt von heftigen Debatten um die Teilnahme an den ersten Wahlen zur Nationalversammlung der neu entstehenden bürgerlichen Republik, in denen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit ihren flammenden Plädoyers, sich trotz der Argumente für eine Räterepublik an diesen Wahlen zu beteiligen, in der Minderheit blieben. Zu den revolutionären Traditionslinien, die von Karl Marx und Friedrich Engels bis heute reichen, gehört also eine immer die aktuelle Situation abwägende, nüchterne Betrachtung des Verhältnisses zum bürgerlichen Parlamentarismus als Mittel zur Durchsetzung der Volksherrschaft.

Das Vertrauen in den gegenwärtig noch als alternativlos betrachteten bürgerlichen Parlamentarismus als historisch nur eine von vielen Formen der proklamierten Volksherrschaft wird in den kommenden Jahren weiter erodieren. Der frischgewählte Präsident der Vereinigten Staaten wird seine vollmundigen Versprechen in seiner Amtsantrittsrede, er wolle den Wohlstand des Volkes mehren und für die US-Amerikaner würde ein goldenes Zeitalter anbrechen, angesichts der globalen Entwicklungen nicht einlösen können.

In Deutschland steht zwar das Wahlergebnis noch nicht fest – aber fest steht: Die neue Regierung wird eine Regierung ohne Volksmehrheit sein. Bei einer geschätzten Wahlbeteiligung von 80 Prozent und bis zu 20 Prozent Stimmen für Parteien, die an der 5-Prozent-Hürde scheitern, werden bis zu 60 Prozent der Wahlberechtigten nach der Regierungsbildung sagen: „Ich habe die nicht gewählt.“ – ganz abgesehen davon, dass die bürokratischen Hürden und die Verkürzung aller Fristen zur Sammlung von Unterschriften für kleinere Parteien viele von ihnen sogar vom Stimmzettel selbst weggesäubert haben.

Sollte das Volk dann in einem der kommenden Jahre gegen diese von ihm nicht gewollte Regierung rebellieren, wird sich das bewahrheiten, was Arnold Schölzel hier vor 20 Monaten mit Blick auf die Frankfurter Nationalversammlung schrieb: „Als … Volksmassen für die Anerkennung der Verfassung zu kämpfen begannen, ließ die Bourgeoisie sie im Stich. Insofern steht die Frankfurter Verfassung auch für den Verrat des deutschen Bürgertums an der eigenen Demokratie.“

Angesichts dieser sich gegenwärtig beschleunigenden Entwicklungen ist es zum einen wichtig, die Kernbestandteile dieser bürgerlichen Demokratie gegen ihre eigenen Schöpfer, die sie verraten werden, zu verteidigen. Gleichzeitig gilt es, ohne Illusionen und ohne Eile die kurzschlüssige Verbindung zwischen Demokratie und Parlamentarismus in Millionen Köpfen nach und nach zu lösen. Als dies praktisch erstmals 1871 während der 72 Tage der Pariser Kommune geschah, feierte Karl Marx die dortigen Errungenschaften einer direkten Demokratie, also wirklichen Herrschaft des Volkes, mit dem Hinweis, „die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen“[1]. Vielmehr schuf die Kommune eine neue Form der Demokratie: „Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse.“[2] Damit aber war sie ein Gegenbild zu dem was fälschlicherweise heute oft als einzige Möglichkeit der Demokratie mißverstanden wird: „Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in den Kommunen konstituierten Volk dienen...“[3]

Der weitere geschichtliche Verlauf hat, ausgehend von der Pariser Kommune über die russischen Sowjets, die Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen Novemberrevolution bis hin zu den vielfältigen Formen der Regierung durch das Volk, die in der heutigen Volksrepublik China praktiziert werden, einen ganzen Schatz an Erfahrungen hervorgebracht, aus dem schöpfend es künftigen Generationen auch in Deutschland möglich sein wird, den Volkswillen einengende Regierungsformen abzustreifen und solche zu finden, die ihm – ob in der Friedensfrage oder in der Frage der sozialen Sicherheit – Geltung verschaffen und so den Namen „Demokratie“ wirklich verdienen.

Manfred Sohn


 
[1]Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Marx Engels Werke (MEW) Band 17, Berlin 1976, S. 336
[2]ebenda, S. 339
[3]ebenda, S. 340