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Hannes Wader ist wohl der bedeutendste noch lebende von den alten Liedermachern, die die 70er und 80er Jahre in der Bundesrepublik maßgeblich prägten. Kurz nach seinem 80. Geburtstag ist von ihm eine wunderschöne CD mit dem Titel „Noch hier“ erschienen. Dort findet sich ein Lied mit dem unscheinbaren Titel „Vorm Bahnhof“. Er singt dort von den durch die zunehmende Technisierung nicht nur der materiellen Produktion, sondern auch des Dienstleistungsbereiches überflüssig gewordenen Angestellten, vom „Hassepidemievirus“, der die Welt immer mehr zugrunde richtet und von den Algorithmen seines Smartphones, die viel schlauer seien als er selbst, dessen Gedächtnis „Risse“ bekäme.

In das Lied sind an den zentralen Stellen Zitate eingestreut von jemandem, der das alles, was Wader trotzig-trauernd-kämpferisch beschreibt, „schon vor 160 Jahren“ wusste. Die Zitate stammen allesamt aus dem Text einer der kürzesten und prägnantesten Reden, die Karl Marx je gehalten hat – die auf der Jahresfeier des „People’s Paper“ am 14. April 1856 in London[1].

In dieser Rede widmet sich Marx den „industriellen und wissenschaftlichen Kräften“, die in einem Maße zum Leben erwacht seien, „von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte“. Auf der anderen Seite aber gäbe es „Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stellen.“ Direkt daran anknüpfend führt er weiter aus:

„In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. … All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.“

Karl Marx kannte noch kein Smartphone – aber die inneren Gesetzmäßigkeiten, die dazu führen, dass sich immer mehr Intelligenz in Maschinerie ablegt, hat er, wie von Wader richtig besungen, vor 160 Jahren bereits offengelegt.

Wieso konnte er das?

Kapitalismus, das ist eine der Erkenntnisse, zu denen er und sein engster Freund Friedrich Engels, gekommen waren, ist die Gesellschaftsform, in der alle menschlichen Bedürfnisse so umgeformt werden, dass eine Ware im Austausch gegen Geld die Voraussetzung zur Befriedigung dieses Bedürfnisses wird. Ohne diese Verwandlung von Bedürfnissen in die Warenform und die Zwischenschaltung von Geld ist keine Profitmacherei möglich. Getrieben durch die Konkurrenz – euphemistisch „Wettbewerb“ oder „Markt“ genannt – müssen die Unternehmen, in deren Zentrum diese Profitmacherei steht, bei Strafe ihres Untergangs immer mehr Bereiche suchen, in denen sich Bedürfnisse in die Warenform pressen lassen.

Zu Zeiten der beiden Freunde waren dies vor allem die elementaren menschlichen Bedürfnisse nach Essen und Trinken, Kleiden und Wohnen. Im Zuge der weiteren Entwicklung ist auch die Mobilität, sind Gesundheit und Bildung in den Sog dieser Verwandlung in die Warenform geraten: Alles ist käuflich. Es war also denen, die diese Dynamik erkannt hatten, zumindest abstrakt, wenn auch natürlich nicht konkret klar, dass sie vor der Kommunikation zwischen den Menschen nicht Halt machen könne. Dies ist aber das, was in unseren Tagen einer der Hauptentwicklungsrichtung der Verwandlung aller menschlichen Bedürfnisse in die Warenform ist. Die menschliche Kommunikation fand über zehntausende von Jahren statt ohne dass auch nur vorstellbar war, dass sie des Dazwischenschaltens eines technischen Mediums bedürfte. Menschliche Kommunikation – das war das gesprochene Wort und die (häufig das Wort begleitende) nonverbale Kommunikation. In der Antike dann schoben sich mit dem Entstehen der ersten Ausbeutungsgesellschaft, der Sklavenhaltergesellschaft, für die obersten Schichten dieser Gesellschaft, die die Ausbeutung zu organisieren hatten, die Schriftsprache und geschriebene Zahlenreihen als Mittel der Kommunikation zwischen die einzelnen Menschen, die mit ihrer Hilfe so über viele Kilometer hinweg in Kontakt treten konnten. Die „wundervolle Kraft“ des Buchdrucks eröffnete einerseits die Möglichkeit, die Bildung von Millionen von Menschen zu erhöhen, diente aber ebenso wie die des Rundfunks und Fernsehens, die unter kapitalistischen Bedingungen ebenfalls mit diesem Januskopf behaftet waren, schnell sowohl als Mittel der Geldmacherei als auch als Mittel der Verdummung. Wie die Zündung einer neuen Raketenstufte hat auf dem Feld der Kommunikation seit Anfang des neuen Jahrtausends aber die Einführung des Handys und später des Smartphones gewirkt. Die vorher warenlos sich vollziehende Befriedigung von Kommunikationsbedürfnissen wird millionenfach an die Warenform und damit an den Besitz und Austausch von Geld gekoppelt; sie wird erst dadurch in größerem Umfang der Profitmacherei zugänglich. Das ist nur möglich durch das Dazwischenschalten eines gewaltigen technischen Apparates, der die Schürfung seltener Erden von der anderen Seite der Erdkugel ebenso erfordert wie die Beförderung tonnenschwerer Satelliten in den Weltraum. Dieser technische Apparat ist die Quelle ebenso gewaltiger Profite. Die technisch vermittelte Kommunikation ist – wenn sie ertragreich sein soll – darauf angewiesen, die nichttechnische zu verdrängen.[2] Dabei wird auch die Struktur des Bedürfnisses selbst verändert. Längst verstummt sind die Gespräche, die früher (manchmal schön, manchmal weniger schön) die zusammengewürfelten Reisegesellschaften in den Zugabteilen der Bahn oder auf Schiffen geprägt haben – heute ist jeder verkapselt in seiner oder ihrer eigenen Kommunikationswelt unterwegs. Die sogenannten sozialen Medien werden vielfach zu Medien, die die Menschen in ihrer Kommunikation nicht zueinander-, sondern im physischen Alltag voneinander wegbringen, sind also a-soziale Medien. Sie formieren das Bedürfnis nach Kommunikation auf kapitalistische Art und deformieren es dadurch.

Das ist nicht alternativlos. Die im kapitalistischen Schoß entwickelten Produktivkräfte können, von ihrer Bedingung, der Profitmacherei zu dienen, befreit, das menschliche Leben tatsächlich bereichern, statt den Hirnen „Risse“ zuzufügen, wie Wader singt oder „das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft (zu) verdummen“, wie Marx sagt. Technisch eröffnet sich in unserer Zeit die Möglichkeit, Produktionsprozesse ohne Markt, Geld und Profit zu organisieren, und sich mit einem demokratischen „world wide web“ tatsächlich eine Art kollektive Datenbank zu schaffen, welche die direkte menschliche Kommunikation nicht ersetzt, sondern ergänzt und fördert.

„Wir für unseren Teil verkennen nicht die Gestalt des arglistigen Geistes, der sich fortwährend in all diesen Widersprüchen offenbart. Wir wissen, dass die neuen Kräfte der Gesellschaft, um richtig zur Wirkung zu kommen, nur neuer Menschen bedürfen, die ihrer Meister werden – und das sind die Arbeiter.“

„Noch hier“ – der Titel dieser wunderbaren CD gilt zum Glück nicht nur für Hannes Wader, sondern auch, obwohl sie schon längst tot sind, auch für Karl Marx und Friedrich Engels. Es ist an der Zeit, den einen zu hören und die anderen zu lesen.

Manfred Sohn

 

 
[1] Abgedruckt in „Marx Engels Werke“, Band 12, Berlin 1961, S. 3f – alle Zitate in diesem Text soweit nicht anders angeben entstammen dieser Quelle
[2] Der Staat hilft dabei – die CDU fordert im laufenden Landtagswahlkampf, der ihr am 9. Oktober den Einzug in die niedersächsische Staatskanzlei bescheren soll, ein „Ende der Kreidezeit“ in den Schulen und deren konsequente Digitalisierung