Logo Marx-engels-StiftungMarx-Engels-Stiftung e.V. · Gathe 55 · 42107 Wuppertal · Tel: +49 202 456504 · marx-engels-stiftung@t-online.de

Gegenwärtig bereiten sich nicht nur die Medien, sondern auch die Gewerkschaften und mit ihnen hunderttausende von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten unseres Landes auf die Lohnrunden im kommenden Herbst vor. Es wird Maßhalteappelle hageln und allerlei großformatige Zeitungsartikel und Talk-Show-Monologe staatlich besoldeter und zusätzlich von Unternehmen cofinanzierter Ökonomieprofessoren geben, die ‚nachweisen‘, dass entweder in unseren Zeiten keine Reallohnerhöhungen möglich wären oder sie, wenn die sturen Gewerkschaftsbosse sie durchsetzen sollten, den Tariflohnempfängern sogar unter dem Strich durch umso höhere Inflation schaden würden.

Innerhalb vieler Betriebe und auch in mancher gewerkschaftlicher Diskussion von Betriebsgruppen, in den Personal- und Betriebsratsbüros oder auf Zusammenkünften gibt es dagegen eine gewisse intellektuelle Hilf- und Wehrlosigkeit. Die Zeiten seien angesichts des Ukraine-Krieges eben so, wird gesagt und es wird zuweilen angefügt, ja, die Lohn-Preis-Spirale sei in Wirklichkeit eine Preis-Lohn-Spirale, aber eine Spirale sei sie trotzdem und wenn jetzt erst die Löhne, danach aber gleich die Preise steigen würden, wäre ja auch nichts gewonnen für uns hier unten. Dagegen gibt es dann in mancher Debatte ein instinktiv richtiges „Ist mir egal, ich brauch‘ mehr Geld und meine Kinder brauchen’s auch!“, aber die theoretische Verunsicherung nagt an der kollektiven Kampfentschlossenheit.

In einem Sommer vor vielen Jahrzehnten – wir schreiben das Jahr 1865 – fand in London eine bemerkenswerte Debatte um sehr ähnliche Fragen statt. In jener Zeit arbeitete Karl Marx mit kräftiger Unterstützung seiner Frau Jenny und seines Kumpels Friedrich Engels an seinem Hauptwerk, dem zwei Jahre später erschienenen „Kapital“. Er war also in Sachen ökonomischer Gesetze und ihrer Schlussfolgerungen auf die damaligen gewerkschaftlichen Kämpfe voll im Thema. Im Zentralrat der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA), die grob vereinfacht der Versuch war, die nationalen Kämpfe der damaligen Arbeiterbewegung international in den theoretischen und strategischen Grundfragen zu koordinieren, gab es im Nachgang zur ökonomischen Krise der 1850er Jahre und vor allem angesichts steigender Preise in England und auf dem europäischen Kontinent heftige Debatten um die Frage, wie die in den Gewerkschaften zusammengeschlossenen Arbeiter denn darauf reagieren sollten. Weit verbreitet war auch innerhalb der fortschrittlichen Kräfte damals das mit dem Namen Ferdinand Lassalle verbundene sogenannte „eherne Lohngesetz“. Es besagt vereinfacht, dass sich aufgrund ökonomischer Gesetze im Kapitalismus völlig unabhängig von allen Lohnkämpfen das Lohnniveau immer auf das Existenzminimum einpendele. Lohnkämpfe der Gewerkschaften seien daher zwar ehrbare Versuche, die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, aber letztlich zum Scheitern verurteilt – nur die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zur Überwindung des Kapitalismus könne für die Darbenden eine Lösung ihrer Existenznöte bringen.

Marx hielt dagegen. In einer Vortragsreihe, die Jahre später anhand seiner Vortragsnotizen von seiner Tochter Eleonore (die aber alle nur „Tussy“ nannten) veröffentlicht wurde, wandte er sich entschieden und ökonomisch fundiert gegen diese Propaganda der Passivität und der Unterwerfung des Proletariats unter das Kapital.  Ohne gewerkschaftlichen Kampf, schlussfolgerte er am Abend[1] des letzten Teils seines Vortrages, würde die Arbeiterklasse „degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass ihre Kämpfe um den Lohnstandard von dem ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, dass in 99 Fällen von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind und dass die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“[2]

Sein Vortrag trägt den Titel „Lohn, Preis und Profit“[3] und umfasst rund 50 Druckseiten in den „Marx Engels Werken“ (MEW). Keine der Arbeiten der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus umreißt so prägnant und vor allem praxisorientiert die theoretischen Grundlagen der Lohnkämpfe im Kapitalismus wie diese 50 Seiten. Marx geht darin auf die vorher in diesem Kreis gehaltene Ausführungen von John Weston ein, einem Arbeiter und Gründungsmitglied der IAA, der auch nach 12 Stunden Maloche für den Sozialismus agitierte. Auch er hing der Theorie an, die Lohnkämpfe der Gewerkschaften seien letztlich vergebliche Liebesmühe. Marx zollt dem wackeren Mann zu Beginn seines Vortrages seine persönliche Hochachtung, geht aber mit seinen theoretischen Ansichten schonungslos um. Kern des Weston-Vortrags war (als sei er heute gehalten), dass Lohnerhöhungen nur ein erhöhtes Preisniveau nach sich ziehen würden, namentlich bei Lebensmitteln.

Das, so Marx, sei falsch, weil in den Wert der Ware Arbeitskraft anders als bei anderen Waren eben auch die „Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden“ einfließe.[4]

Lohnrate und Profitrate würden eine Einheit bilden – daher die Erbittertheit, mit der das gesammelte Kapital seine Profitrate auf Kosten der Lohnrate auszuweiten trachte: „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“[5] Er wandte sich im weiteren Verlauf des Vortrags vor allem gegen den „Trugschluss“ zu meinen, die „Warenpreise werden bestimmt oder geregelt durch den Arbeitslohn.“[6]

Im Ergebnis seiner Ausführungen schlägt Marx die Annahme eines Beschlusses in Form von drei Punkten vor:

  1. Eine allgemeine Steigerung der Lohnrate würde auf ein Fallen der allgemeinen Profitrate hinauslaufen, ohne jedoch, allgemein gesprochen, die Warenpreise zu beeinflussen.
  2. Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.
  3. Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ [7]

Wer sich – am besten mit Kolleginnen und Kollegen zusammen – die Mühe macht, an zwei Abenden die Woche (vielleicht in der Tradition der IAA am nächsten Mittwoch ab 21 Uhr?) diesen 50-seitigenText zu studieren, wird viel gewonnen haben für die innere Vorbereitung auf die Lohnrunden, die nach diesem August in den kommenden Monaten auf uns zukommen.

Manfred Sohn


 
[1] Der Vortrag begann am Mittwoch, den 20. Juni 1865 um 21 Uhr – soviel zu den damaligen Kampfbedingungen, denn nur zu dieser Zeit war es den Arbeitern, die die IAA wesentlich mit prägten, überhaupt möglich, an solchen Debatten teilzunehmen. Die Uhrzeit des zweiten Teils ist nicht überliefern – wahrscheinlich hielt Marx ihn eine Woche später. Die Debatten um den Vortrag innerhalb der IAA hielten bis in die August-Sitzungen hinein an.
[2] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW) Band 16, Berlin 1962, S. 151f
[3] Da er auf Englisch gehalten wurde, natürlich im Original „Value, Price and Profit“
[4] Ebenda, S. 149
[5] Ebenda, S. 105
[6] Ebenda, S. 119
[7] Ebenda, S. 152