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Anmerkungen zu Gesellschaftsformationen am Beginn und Ende ihrer Tage

Im Kapitel zu seiner „Beobachtung der Natur“ macht Georg Friedrich Wilhelm Hegel folgende Anmerkung zur Ähnlichkeit von Erscheinungsformen am Anfang und Ende von Prozessen: „Das Wesen ihrer Beziehung aber ist ein anderes, als sie so zu sein scheinen, … ; die Notwendigkeit ist an dem, was geschieht, verborgen und zeigt sich erst am Ende, aber so, daß dies Ende zeigt, das sie auch das Erste gewesen ist.“[1]

Wir kennen das alle: Am Anfang ist zwar nicht immer für jeden ersichtlich, ob aus einem Samen eine Tomate oder eine Gurke wächst. Und wir wissen alle von der Ähnlichkeit aller Erscheinungen in der Natur an ihrem Anfang und ihrem Ende. Der in der Höhe seiner Kraft stehende Mensch war klein und hilflos an seinem Beginn und er ist in der Regel eingeschrumpft und hilflos an seinem Ende. Kaum eine Feier für ein neugeborgenes Kind geht vorbei, ohne daß mindestens eine nahe oder entfernte Verwandte darauf hinweist, die Kleine trüge die Gesichtszüge ihrer jüngst verstorbenen Urgroßmutter kurz bevor sie starb. Wer christlichen Begräbnissen beiwohnt, hört die Formel „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, die die Identität zwischen Anfang und Ende eines Lebens in christlicher Mythologie widerspiegelt.

Dieses Phänomen gilt aber nicht nur für Erscheinungen der Natur und der ihr angehörenden einzelnen Menschen. Sie gilt auch für die Zusammenschlüsse, also gesellschaftliche Formationen von Menschen. Fast immer, bevor ein Staatsgebilde untergeht, beschwören seine Repräsentanten zur Abwendung des Untergangs die Werte und Helden seiner Entstehungszeit. Richtig daran ist: Entstehungszeiten bilden oft – „verborgen“, wie Hegel sagt - Muster ab, die sich an ihrem Ende erneut zeigen und helfen, ihre Entstehung und das Wesen der weiteren Entwicklung zu begreifen. Wichtiger als das Beschworene ist dabei häufig, auch das liegt in der Erkenntnis Hegels eingeschlossen, das Verborgene, Verheimlichte, Verleugnete. 

Zu den Gründungsmythen des Kapitalismus gehört seine Gewaltlosigkeit, so als wäre ausgehend von Westeuropa seine Ausbreitung über den ganzen Globus vor allem das Ergebnis friedlichen Handels, bahnbrechender Erfindungen und dem Bemühen, den Wohlstand aller vorher von Sklaverei, Feudalismus und Unwissenheit gefesselten Menschen zu heben. Das ist eine vielfacht widerlegte Lüge[2]. Die Genialität von Karl Marx und Friedrich Engels bestand unter anderem darin, die in der Logik dieses Gesellschaftssystem angelegte Gewalt schon in ihren Geburtswehen erkannt zu haben – so Friedrich Engels in seinem 1845 erschienen Frühwerk zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“[3]. Den brutalen Entstehungsprozess dieser Formation, in der wir auf diesem Teil der Welt immer noch leben, fasst Karl Marx in seinem gut zwei Jahrzehnte später erschienenen Hauptwerk „Das Kapital“ in einem eigenen Kapitel unter dem Titel „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ so zusammen: „Wenn das Geld, nach Augier ‚mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt‘, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.“[4]

Der Verweis auf die Blutflecken, die schon dem Gelde anhaften, ist kein Zufall. Ohne Geld funktioniert der ganze kapitalistische Ausbeutungsprozess – im Gegensatz etwa zum feudalen – nicht. Alles an menschlichen Beziehungen, die vor dem Kapitalismus noch jenseits einer Ware-Geld-Beziehung organisiert wurden, muss zur Ware werden, muss in Geld ausdrückbar gemacht werden, um der kapitalistischen Ausbeutung zugänglich zu sein. Zuerst wird die Herstellung gegenständlicher Gebrauchswerte wie Kleidung oder Möbel in die Waren- und Geldform gebracht. Im Laufe der Jahrhunderte saugt das System aber auch alles andere wie Gesundheit, die Bildung junger und die Pflege alter Menschen in die Warenform auf seiner unersättlichen Suche, alles zu Geld zu machen – diesem „mit natürlichen Blutflecken …zur Welt“ gekommenen Ding. 

Was aber mit Blutflecken auf die Welt kommt, geht auch mit Blutflecken wieder von der Welt – erst recht, wenn es sich dieses Mittels zum Reichtum einzelner so enthusiastisch annimmt und es zum Zentrum seiner eigenen Welt macht wie dieses „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut…triefende“ System.

Dieser Kreislauf, die Ähnlichkeit seines Anfangs mit seinem noch in der Zukunft liegenden Ende, müsste insbesondere jedem einigermaßen gebildeten Deutschen wohlbekannt sein: Das Hitlerregime rühmte sich offen, zum Beispiel im schaurigen Horst-Wessel-Lied, seines blutigen Ursprungs und gedachte in seiner Hochzeit in schwülstigen Veranstaltungen seiner „Novembertoten“ des gescheiterten Putschversuchs von 1923. So blutig wie es zur Welt kam, ging es 1945 unter – noch in den letzten Stunden seine eigene gläubige „Hitlerjugend“ sinnlos in Berlin in den Tod treibend, um die eine eigene Agonie wenigstens um ein paar Stunden zu verlängern. 

Das brutale Wesen des so in die Welt gekommenen Systems konnte insbesondere in Westeuropa in seiner imperialistischen Phase vor der eigenen Bevölkerung einige Jahrzehnte lang „verborgen“ werden, um den hegel’schen Begriff zu benutzen. Das Nichtwissen(wollen) über die Brutalität der eigenen ökonomischen Grundlagen des Wohlstands der Menschen in Westeuropa änderte an ihrem Wesen aber nichts. So ließ sich in den Zentren des Imperialismus schon immer bei Tee und Gebäck angenehm plaudern über die Zivilisation, die Toleranz und die Bedeutung westlicher Werte. Das schloss zuweilen ein Naserümpfen über die Brutalität des US-amerikanischen Kapitalismus ein, der, weil später kommend und ein erstmal den eigenen Kontinent von widerständigen Menschen brutal säubernden Imperialismus, den Colt am Gürtel viel offener und hemmungsloser zeigte als die Menschenfreunde in London, Paris oder Berlin, die mit dem Beginn des Kolonialzeitalters viel blutige Ausbeutungsarbeit in ferne Länder exportiert hatten.

Die Zeitwende, von der hierzulande genauso viel wie sinnentleert gesprochen wird, besteht in ihrem Kern darin, dass sich dieses ökonomische Grundmodell der Wegverlagerung brutaler Ausbeutung aus dem Sichtkreis der eigenen Bevölkerung erschöpft hat, an ihr Ende kommt.

Die Pipelines, mit denen der den vielen Milliarden Menschen der früher so genannten „dritten Welt“ abgepresste Mehrwert zu erheblichen Teilen (nach Abzweigungen für die dortigen Statthalter) in die Regionen der sogenannten goldenen Milliarde, also den in Westeuropa, Japan und den USA lebenden Menschen transferiert wurde, versiegen vor unseren Augen. Was das ökonomisch und danach auch politisch bedeutet, könnten, wenn sie sich denn kollektiv damit intensiver beschäftigten, die Deutschen vor allen anderen Mitgliedern der goldenen Milliarde am besten wissen. Sie haben es nämlich schon einmal erlebt. Als sich dieses Land nach dem militärischen Siegen über die Donaumonarchie und Frankreich ab 1870/71 in den Club der die Welt ausplündernden imperialistischen Nationen hineingerüpelt hatte, gab es einen Wohlstandszufluss, von dem auch die deutsche Arbeiterklasse profitierte und der dazu beitrug, ihren einst stolzen revolutionären Elan erlahmen zu lassen. Auf die Generation der Revolutionäre um Marx und Engels folgte die Generation der Verzagten, der Verräter und der Reformisten um Bernstein, Kautsky und Ebert. Als dann das Kolonialreich verloren war und das Elend sich in Deutschland wieder ausbreitete, führte das 1924 zum Beispiel in Wuppertal, der Geburtsstadt von Friedrich Engels, zehn Jahre nach dem Ausbruch des großen Krieges Deutschlands gegen Russland, Frankreich und England zum Jammern in der sozialdemokratischen Presse, „vor dem Krieg seien täglich 60.000 Liter Milch in Barmen verbraucht worden, jetzt stünden täglich nur noch 7.000 – 8.000 Liter zur Verfügung – so dass kaum die Kranken und die jüngsten Kinder versorgt werden könnten.“[5]

Soweit ist es in Wuppertal und anderswo noch nicht wieder. Die Pipelines – bis auf die von den USA gesprengte in der Ostsee – versiegen nicht plötzlich, sondern nach und nach. Folglich ist Deutschland wie auch die gesamte EU zur Zeit noch nicht im Absturz-, sondern Sinkflug-Modus. Das kann sich schnell ändern, wenn der Kurs auf einen (Wirtschafts-)Krieg gegen Russland und China sich weiter beschleunigt. Aus Stagnation würde dann mit Blick auf die Bedeutung allein der Märkte in China mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dauerhafte Rezession, aus leichtem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten ein zweistelliger, aus vorübergehend in Schritttempo gefallener wieder eine trabende Inflation. 

Mit dem wirtschaftlichen Niedergang der alten Kolonialmächte aber geht eine Brutalisierung der Politik nach innen und außen einher. Alle tonangebenden Medien drängen die Regierung, die von ihr selbst ausgerufene „Zeitenwende“ endlich ernst zu nehmen und die Aufrüstung statt durch weitere Schulden durch einen massiven Abbau des aus ihrer Sicht historisch überholten Sozialstaats zu finanzieren. Damit stellt sich auch für Kinder und Alte in Wuppertal bald wieder die Milchfrage. Ausgerechnet in Kreta – wo vor wenigen Jahrzehnten deutsche Fallschirmjäger wüteten – erklärt Bundeskriegsminister Boris Pistorius an Bord der Fregatte Hessen den „Ernstfall“ und der befehlshabende Fregattenkapitän Volker Kübsch meldet sich und die ihm unterstehende 238 Soldaten ab zum „Kriegsmarsch“[6] in Richtung Rotes Meer. Um mit den Worten des von Marx zitierten Augier zu sprechen: Die Blutflecken werden in ersten Andeutungen wieder sichtbar. Wenn es keine Wende zur Vernunft und zur Kooperation mit der Mehrheit der Weltbevölkerung gibt, werden sie sich ausprägen wie sie sich ausgeprägt haben am Beginn der Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland.

Manfred Sohn


 
[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1970, S. 199
[2] Im deutschen Sprachraum ist sie durch historische Fakten in diesem Jahrhundert zum Beispiel widerlegt von dem heute immer noch lesenswerten „Schwarzbuch Kapitalismus“ von Robert Kurz, Frankfurt a.M. 2009. Wer die aufgeführten Bilder aushalten kann, kann die dunkle Seite der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus auch sehr plastisch nachvollziehen am Bildband „Die Geburt der dritten Welt – Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter“, von Mike Davis, Berlin/Hamburg/Göttingen 2004
[3] Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Marx Engels Werke (MEW), Band 2, Berlin 1974, S. 225ff
[4] Karl Marx, Das Kapital, MEW Band 23, Berlin 1974, S. 788
[5] zitiert nach Reiner Rhefus, Großer Streik, junge welt, 20.02.2024, S. 13
[6] zitiert nach FAZ vom 21. Februar 2024, S. 3