Anmerkungen zur Aktualität von Friedrich Engels
Am 26. März ist auf einer öffentlichen, von mehr als 50 Menschen besuchten Veranstaltung in Wuppertal ein weiteres Buch über Friedrich Engels vorgestellt worden. Es ist auch aus Mitteln der Marx-Engels-Stiftung finanziert – Dank an dieser Stelle allen Spendern der Stiftung, die so zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben!
Der Verdienst dieser Arbeit des Literatur- und Geschichtswissenschaftlers Dirk Krüger besteht vor allem darin, einen Schwerpunkt auf die ersten Lebensjahrzehnte von Friedrich Engels und auf seine Prägung in Wuppertal gelegt zu haben. Das ist aus mindestens drei Gründen wichtig.
Zum einen gab es trotz der Fülle der Werke des weltweit wohl bekanntesten Wuppertalers bislang kein Buch, in der Engels vor allem in seinem Werden zum späteren führenden Kommunisten der Gründungsperiode dieser Bewegung beschrieben wird. Er wird häufig nur als Copilot von Karl Marx gesehen und er hat dazu auch selbst durch seine Bemerkung beigetragen, er hätte im Konzert der jungen kommunistischen Bewegung immer nur die „zweite Violine“[1] gespielt. Diese Einordnung tut ihm selbst unrecht, weil er – Marx einmal für zehn Sekunden weggedacht – der überragende Kopf des wissenschaftlichen Sozialismus war. Vor allem aber verstellt diese leise Geringschätzung von Engels uns heute möglicherweise den Blick auf seine eigenständigen Werke, von denen im besagten Buch vor allem sein erstes – die Betrachtung über die Lage der arbeitenden Klasse in England“ – ausführlich gewürdigt wird. Dieses Buch markiert die Hinwendung sowohl von Engels als auch von Marx zum Feld der Ökonomie. Friedrich Engels war aber auch in den Jahrzehnten nach seinem ersten Zusammentreffen mit Marx der Schöpfer von Werken, die heute noch unentbehrlich sind für das Verständnis der Welt – wie seine „Dialektik der Natur“.
Damit kommen wir zum zweiten Grund des Verdienstes dieser Schwerpunktsetzung auf die ersten drei Lebensjahrzehnte. Die an Marx und Engels orientierte Bewegung in Deutschland hat heute die Form einer liegenden Acht. Es gibt eine Reihe von Alten – wie (ohne ihm zu nahe zu treten) den Autor dieses Buches über den jungen Engels. Dieser Teil der liegenden Acht wird naturgemäß immer kleiner. Von ihnen hat heute aber zum Glück niemand mehr Angst, der letzte zu sein, der das Licht ausmacht, bevor das Erbe von Friedrich Engels im Dunkeln verlischt. Zwar fehlen als Ergebnis der Konterrevolution nach 1989 weitgehend die Jahrgänge der heute 40-60jährigen in der kommunistischen Bewegung Europas. Aber sogar unabhängig von dem gewaltigen Aufschwung des Marxismus weltweit – der Name Engels wird allen über 90 Millionen Mitgliedern allein der Kommunistischen Partei Chinas schon in den ersten Monaten nach ihrem Eintritt nahegebracht – gibt es zur Zeit ein spürbar anwachsenden Interesse an Marx und Engels unter jüngeren Menschen auch hier in Deutschland. Wer beispielsweise im Januar 2024 mit den 3700 anderen an der Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt oder an der sich tags darauf anschließenden Liebknecht-Luxemburg-Demonstration von 12.000 Menschen teilgenommen hat, wird unter den erwähnten Alten vor allem tausende junge Menschen erlebt haben, die sich auf den Weg machen, in Europa nach der „Pariser Kommune“ und dem realen Sozialismus von 1917 bis 1989 den dritten Anlauf zum Sozialismus zu organisieren. Es wäre fatal, wenn diese jungen Menschen Engels vor allem als einen alten Mann mit Bart vor dem geistigen Auge hätten. Er war eben – wie sie – vor allem ein junger Wilder, der alles verstehen und alles verändern wollte. Diesen „jungen Engels“ ins Zentrum zu rücken, ist daher ein großes Verdienst.
Die, die jetzt, sich als Marxistinnen und Marxisten verstehend, in Bewegung geraten, tun das unter der doppelten Bedrohung von Krieg und Klimakrise. Das ist der dritte Grund dafür, Friedrich Engels wieder mehr ins Zentrum der Debatten zu holen. Denn über seine Beiträge am Gesamtwerk der Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus und hier seiner philosophischen und ökonomischen Kernaussagen hinaus hat er sich zu Recht einen besonderen Ruf erworben als derjenige der beiden Freunde, der sich vor allem mit Fragen des Krieges und der Natur befasst hat. Auf beiden Gebieten hat es in den letzten 180 Jahren große Veränderungen gegeben. Wer aber die Grundlagen aller Prozesse im Zusammenhang der Themen Krieg und Umwelt verstehen will, wird das ohne die Hilfe von Engels nicht können. Auf ihn aufmerksam zu machen, ist daher von großer Aktualität.
Bleiben wir an dieser Stelle beim Thema Natur: Der 2016 verstorbene Ehrenvorsitzende der Marx-Engels-Stiftung, Robert Steigerwald, hielt im September 2006 einen Vortrag zur Frage, warum und wie sich Marxistinnen und Marxisten um Naturwissenschaften kümmern sollten und beginnt diesen Vortrag natürlich bei Engels:
„Wie der Marxismus als Ganzes, so ist auch seine Philosophie in Auseinandersetzungen entstanden, hat sie sich im Kampf weiter entwickelt. Es handelt sich also durchaus um eine polemische Theorie. Kein Wunder also, dass sie auch ständig dem Meinungsstreit (oder dem Totschweigen!) ausgesetzt war und ist. Dabei gab es unterschiedliche Etappen solchen Streits um und mit dem Marxismus, die sich, außer der direkten Gegnerschaft zum Marxismus auch bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen verdankten und verdanken. Die erste ‚Schlacht‘ um die marxistische Philosophie fand etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Da ging es um den von Engels so benannten Vulgärmaterialismus, den naturwissenschaftlichen Materialismus der Vogt, Moleschott, Büchner, Ostwald, Haeckel. Qualitativ war er sehr verschieden vom Materialismus der französischen Aufklärer – da war noch wirklich philosophisches Bemühen am Werk, wie das auch für Ludwig Feuerbach der Fall war, der nicht in die Reihe der Vulgärmaterialisten gehörte.
Was macht den Kern dieses Vulgärmaterialismus aus und weshalb war er Gegenstand der Kritik vor allem Seiten Engels? Genau genommen war dieser Materialismus die intellektuelle Begleitmusik der kapitalistischen Industrialisierung Deutschlands. Mit dieser ging ein beträchtlicher Aufschwung der Naturwissenschaften einher. Der brachte Deutschland auf diesem Gebiet an die Spitze der internationalen Entwicklung. Dies änderte sich erst durch den Machtantritt der Nazis. Infolge der Verjagung der bürgerlichen Intelligenz wurden die USA auf diesem Gebiet (auch dank der vertriebenen deutsch-jüdischen Gelehrten) zur Führungsmacht. Der deutsche naturwissenschaftliche Materialismus war also tatsächlich mit dem Aufschwung der deutschen Bourgeoisie verbunden. Hochnäsig setzte er sich über die klassische deutsche Philosophie, insbesondere Hegel und dessen Dialektik hinweg, nahm naturwissenschaftliche Ergebnisse ohne philosophische gründliche Untersuchung, ohne Analyse der eingesetzten intellektuellen Produktionsmittel für die Realität „an sich“ und verfiel folglich auf philosophischem Gebiet auch auf mancherlei Hokuspokus, mit dem sich Engels auseinandersetzen sollte.
Wesentlicher aber war die politische Seite der Entwicklung: Als bürgerliche Ideologie orientierte der naturwissenschaftliche Materialismus politisch auf den Reformkampf, auf den Parlamentarismus, kurzum: durchweg auf Bürgerliches und nahm – auch in Form von Verleumdungen und Fälschungen politischer Art … aggressiv gegen die sich herausbildende Arbeiterbewegung Stellung. Die Kritik von Engels am Vulgärmaterialismus hatte einen Zweifronten-Charakter. Er widerlegte den flachköpfigen naturwissenschaftlichen Materialismus durch gründliche naturwissenschaftliche Studien. Ihr Ergebnis sind die umfangeichen, nicht abgeschlossenen, nachgelassenen Notizen und Ausarbeitungen, die heute unter dem Titel „Dialektik der Natur“ vorliegen. Er konfrontierte den naturwissenschaftlichen Materialismus mit dem wirklichen Niveau der Naturwissenschaften, analysierte die von diesem benutzten Begriffe, Theorien, und Hypothesen. … Und für diese Arbeit musste er auf die vom naturwissenschaftlichen Materialismus missachtete klassische deutsche Philosophie, insbesondere auf Hegel, auf dessen Dialektik, zurückgreifen. Das wiederum machte es nötig, dessen Dialektik ihrer mystischen, ihrer idealistischen Hülle zu entkleiden.“[2]
Dieses Herangehen ist für alle Debatten notwendig, in denen sich naturwissenschaftliche und politische Fragen treffen. Die gesamte Klimadebatte kann aus marxistischer Sicht nur in dieser Wechselwirkung fruchtbar geführt werden – angefangen von der Frage, ob wir es mit einer Klimakrise oder mit einer Klimakatastrophe zu tun haben bis hin zu der Frage, ob es zum Erhalt oder in immer mehr Regionen der Welt sogar zur Wiederherstellung der natürlichen menschlichen Lebensgrundlagen der Überwindung des kapitalistischen Profitsystems bedarf oder nicht. Fruchtbar für die heutigen Debatten ist auch der Hinweis von Steigerwald auf die deutsche Hochnäsigkeit, die sich hierzulande paart mit einer bis in die Linke hineinreichenden Arroganz, die an Engels orientierten fundierten Überlegungen zur Verbindung von Ökonomie und Ökologie etwa in China, aber auch in Vietnam oder Kuba überhaupt nur ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Der Werte-Messianismus, der die deutsche Außenpolitik durchzieht und sich unter anderem aus einer vermeintlichen deutschen Führerschaft in der Frage des Verhältnisses von Mensch und Natur speist, ist auch deshalb von einer weltweit zunehmend artikulierten Peinlichkeit, weil er der inzwischen verklingende Widerhall auf eine technologische Führerschaft ist, die weder der Gegenwart noch der Zukunft, sondern der Vergangenheit angehört.
Eine von solchen Fragen abgelöste, vermeintlich rein naturwissenschaftliche Debatte um die Klimafragen führt per se auf Holzwege und in die Sümpfe. Wer Engels – und in seinem Gefolge Steigerwald – zur Hand nimmt, wird davor bewahrt werden.
Manfred Sohn
Buchhinweis: Dirk Krüger, Der junge Engels aus der Sicht der Kommunisten heute, Essen 2024, 8.- Euro
[1] Marx Engels Werke (MEW), Band 36, S. 218
[2] Robert Steigerwald, Warum und wie sollten Marxisten sich um Naturwissenschaften kümmern? Neue Impulse Verlag 2006, S. 3f