Anmerkung zur zentralen Stellung der Kommunen im Marxismus
Rund 180 Millionen Menschen machten sich im Oktober 1917 in Russland auf den Weg, um die jahrzehntelangen Forderungen nach einer anderen, den Kapitalismus ablösenden Gesellschaftsordnung revolutionäre Praxis werden zu lassen. Inzwischen leben trotz des zeitweiligen Rückschlags, den diese Bewegung in Europa und dem russischen Teil Asiens erlitten hat, mehr als 1,5 Milliarden Menschen in Gesellschaften, deren erklärtes Ziel die Errichtung des Sozialismus ist und die sich in der Konkretisierung dieses Ziels auf den von Karl Marx und Friedrich Engels begründeten wissenschaftlichen Sozialismus berufen.
Diese sich seit dem Oktober 1917 entfaltende Bewegung stützt sich aber nicht nur auf das theoretische Werk von Marx und Engels. Sie stützt sich auch auf das praktische Werk der rund 1,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger von Paris, die mitten im Krieg gegen Preußen 1871 für 72 Tage die Pariser Kommune errichteten. Wer in den Jahrzehnten danach fragte, wie denn die von den an Marx orientierten Kräften angestrebte Gesellschaft praktisch aussehen sollte, dem schleuderte Friedrich Engels Sätze wie diese entgegen: „Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, Ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht Euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“[1]
So formulierte er es am zwanzigsten Geburtstag der Kommune, am 18. März in der Einleitung zur Neuauflage der Schrift von Karl Marx zum „Bürgerkrieg in Frankreich“. Dort setzt Marx aber nicht nur den Kommunarden von Paris ein bis heute leuchtendes Denkmal. Er entwickelt anhand der damaligen historischen Ereignisse dort auch den grundlegenden Gedanken über die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die sozialistische Perspektive der Gesellschaftsformation: „Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein … sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war.“[2]
Dieser erste Anlauf für einen sozialistischen Entwicklungsweg wurde – auch dank deutscher Kanonen – nach 72 Tagen im Blut von 30.000 ermordeten Kommunarden ertränkt[3]. Es bleibt von diesen 72 Tagen auch das Vermächtnis, die Kommunen in den Mittelpunkt des politischen Handelns aller Nationen zu stellen.
Die zentrale Stellung der Kommune ist auch innerhalb der Linken in den letzten 150 Jahren in den Hintergrund gerückt. Das hat einen Grund. Die Kommune in Paris war nicht allein. Ähnliche Bewegungen gab es in Lyon, in Marseille und anderen „Mittelpunkt zweiten Ranges“, wie es Marx formuliert hatte. Paris hat am längsten durchgehalten, aber geschlagen wurden sie von der zentralisierten und trotz der Niederlage gegen Preußen immer noch vorhandenen, nach Versailles geflohenen französischen Zentralregierung. Damit wiederholte sich ein Muster, das in Deutschland aus den Bauernkriegen wohl bekannt und von Engels in seiner Arbeit „Der deutsche Bauernkrieg“[4] ausführlich analysiert worden war: Eine vor allem auf Dezentralität setzende revolutionäre Bewegung wird einer zentralisierten Reaktion unterliegen – so wie die bis zu 100.000 Mann starken Bauernhaufen nicht nur der militärischen Macht der Kanonen, sondern auch der Fähigkeit des Feudaladels zu koordinierten Handeln unterlagen. Die russischen Bolschewiki um Wladimir Iljitsch Lenin herum hatten daraus die historisch richtige Schlußfolgerung gezogen, daß auch eine revolutionäre Macht zumindest in der Phase der noch nicht vollendeten Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie die Tendenz zur Dezentralisierung überwinden und selbst zentralisiert organisiert werden muss – bei Strafe des blutigen Untergangs, den die deutschen Revolutionäre in den Bauernkriegen und die französischen in der Kommune erlitten. Das bleibt bis in unsere Gegenwart richtig, nimmt aber nichts von der Orientierung auf die kommunale Selbstverwaltung als der Grundlage jeder langfristigen sozialistischen Entwicklung[5]. Wer die heutigen Diskussionen in China aufmerksam verfolgt, wird feststellen, daß die dort wirkenden Städte und Gemeinden inzwischen ein höheres Maß an realer politischer Entscheidungsgewalt haben als ihre Partnerstädte – so es sie gibt – in Deutschland.
Das gilt aber nicht nur in der langfristigen Perspektive nach dem Sieg der sozialistischen Revolution. Alles sich in der Zukunft zu Entfaltende wird sich nur dann entfalten, wenn es in Keimform schon jetzt vorhanden ist. Die Keimform der kommunalen Selbstverwaltung lebt aber nicht nur in der Erinnerung an die Pariser Kommune, sie lebt bereits in der Bundesrepublik Deutschland. Im Artikel 28 des Grundgesetzes, der mit „Landesverfassungen – Selbstverwaltung der Gemeinden“ überschrieben ist, heißt es: „In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. … Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. … Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.“
Im Verlaufe der letzten 75 Jahre hat sich die politische Realität immer weiter von diesem Anspruch des Grundgesetzes an die kommunale Selbstverwaltung entfernt. Die an deren Stelle gesetzte kommunale Kastration realisiert sich vor allem über die finanzielle Entmündigung. Am 24. Mai 2024 – also parallel zu den pompösen 75-Jahre-Feiern des Grundgesetzes – berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter der Überschrift „Kommunen sehen sich zunehmend in der Klemme“, dass „fast 90 Prozent der befragten Kommunen eine negative künftige Finanzlage“ erwarteten. Im vergangenen Jahr sei das Defizit der Kommunen auf 7 Milliarden Euro gestiegen –Tendenz steigend. Der rechnerische Anstieg der Gesamtinvestitionen im laufenden Jahr reiche „nicht aus, um die steigenden Baupreise auszugleichen: Dadurch steigt der wahrgenommene Investitionsrückstand um rund 20 Milliarden auf rund 185 Milliarden Euro.“ Es wäre also höchste Zeit, entweder anstelle von Kriegskrediten in dreistelliger Milliardenhöhe Kommunalkredite aufzunehmen und sie den Kommunen zur Verfügung zu stellen oder – noch besser – die Reichen und die Unternehmen so zu besteuern, daß die Verrottung von Schulen, Straßen und Wassernetzwerken beendet wird und die Kommunen wieder Geld haben für sozialen Wohnungsbau und die Gewährleistung einer wohnortnahen klinischen Versorgung aller Menschen, die sie brauchen. Davon sind wir noch weit entfernt. Umso wichtiger und ermutigender ist es, den „Widerstand im Kleinen“ zu entwickeln, die es in einem Bericht der Wochenzeitung „unsere zeit“ über das seit langem erste zentrale Kommunalpolitik-Seminar der DKP schon in der Überschrift gefordert wurde[6]. Vincent Cziesla skizzierte dort die „Aufgaben von kommunistischer Kommunalpolitik in Zeiten von Krieg und Krise“. Neben der Konzentration auf betriebliche Arbeit und am besten in Verknüpfung damit gilt es, die Kommunen als Kampffeld für einen künftigen Aufschwung linker Bewegungen neu zu erschließen. Die Alten können dabei von den Jungen lernen: Gefragt, auf welche Kämpfe denn die sich gegenwärtig im Aufschwung befindliche „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend“ (SDAJ) orientiere, antwortete deren Bundesvorsitzende Andrea Hornung: „Wir orientieren auf Kämpfe für die Verbesserung der Situation der lernenden und arbeitenden Jugend … Wir stehen vor dem Problem, dass viele Jugendliche resigniert sind. … Mit resignierten Jugendlichen, die meinen, dass man die Welt eh nicht verändern könne, ist aber kein Klassenkampf zu führen, geschweige denn der Kampf für den Sozialismus. Um zu zeigen, dass wir gemeinsam etwas erreichen können, dass der gemeinsame Kampf sich lohnt, wollen wir unter den aktuellen Bedingungen mehr solche Kämpfe führen, die Aussicht auf Erfolg haben – wie zu Beispiel bei der Durchsetzung von mehr Schulbuslinien, die SchülerInnen in Dortmund erreicht haben.“[7]
Welches Feld es ist, was zum Beackern auffordert, ist zwar nicht willkürlich, aber nicht entscheidend – entscheidend ist, daß es ein Feld ist, von deren Früchten viele Menschen unmittelbar betroffen sind und die daher bereit sind, mitzuackern. Stellvertreterpolitik gegen die Macht des Kapitals ist weder möglich noch enthielte sie eine sozialistische Perspektive. Ob dieses Feld eine neue Buslinie – also der öffentliche Personennahverkehr – oder die wachsende Wohnungsnot oder die prekäre Lage der kommunalen Gesundheitsversorgung ist, kann nur vor Ort entschieden werden.
Kommunalpolitik ist zwar – wie auch Betriebsarbeit – das Bohren dicker Bretter. Ohne das Hineinbeißen in diese beiden Felder aber verkäme die an Marx orientierte Linke zu einem reinen Theorie- und Lesezirkel und würde nicht den Masseneinfluß gewinnen, der nötig ist, um die Tage der Kommune oder die des roten Oktober wenigstens wieder in Horizont-Sichtweite zu bekommen.
Umgekehrt gilt: Starke kommunale Positionen werden es erleichtern, den großen Traum der Pariser Kommune und der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus von einer „Kommunalverfassung“ in einem weiteren Anlauf zum Sozialismus in Deutschland Wirklichkeit werden zu lassen. Kommunalpolitik ist so auch die Verbindung von Arbeit vor Ort mit revolutionärer Perspektive.
Manfred Sohn
[1] Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Bürgerkrieg in Frankreich“, Ausgabe 1891, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 17, Berlin 1976, S.
[2] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, a.a.O., S. 339f
[3] Einen glänzenden Überblick über die Ereignisse von 1871 gibt der Historiker Florian Grams in seinem in mehreren Auflagen erschienenen Buch „Die Pariser Kommune“, Köln 2023
[4] MEW 7, Berlin 1973, S. 327-413
[5] Dazu ausführlicher der Autor dieses Artikels in: Manfred Sohn, Der dritte Anlauf – alle Macht den Räten, Köln 2012
[6] Unsere Zeit, 10. Mai 2024
[7] „Gegen die Resignation“ –Interview in der Zeitschrift „position“, 3/24, S. 13